14. Jahrgang | Sonderausgabe | 26. September 2011

Editorial

Auch eine Wochenschrift hat ihre Traditionen und ihre moralischen Gebundenheiten, ihre Freundschaften und ihre Feindschaften. Aber erstens sind die hier der Zahl nach, absolut und relativ, kleiner als anderswo, und zweitens kann ich mich auf keinen Fall besinnen, wo wir aus jenem flauen Gefühl: ›Das kann man doch nicht … ‹ geschwiegen hätten. Wenn uns S. J. nichts vererbt hätte: seine Zivilcourage haben wir von ihm übernommen.

(Kurt Tucholsky, Fünfundzwanzig Jahre, in: Die Weltbühne, Nr. 37 / 1930)

Nicht erst die jüngste Debatte in der Linken über Stalinismus hat belegt: Die Linke, was wiederum mehr meint als die gleichnamige Partei, ist mit diesem Thema noch keineswegs am Ende. Einen Teil der linken politischen Akteure stört das begreiflicherweise – wird es von den im kuscheligen Schützengraben des Kalten Krieges Verbliebenen konservativer Couleur doch gar zu gern ausgeschlachtet. Der Groll darüber, immer wieder per Debatte mit diesem höchst negativen Begriff in Verbindung gebracht zu werden, ist allemal verständlich. Nur eben sollten Linke aus unselig vergangenen Zeiten ideologischer und machtpolitischer Fremdbestimmung des eigenen Denkens, Tuns und Lassens gelernt haben, wie stumpfsinnig falsch die seinerzeitig permanent benutzten Devisen waren: „keine Fehlerdiskussion“ und „dem Klassenfeind keine Munition (zu) liefern“, indem man die eigenen Probleme offen – zumal kontrovers – debattiert.
Es hilf nichts: Mit dem Stalinismus ist die Linke noch nicht fertig, als Vorwurf nicht und als Strukturelement eigenen Denkens ebenso wenig. Man kann es daran erkennen, wie vor allem Genossen zumeist älterer Jahrgänge (maoistische Gruppen sind hier nicht gemeint) bis heute den Stalinismus auf das reduzieren, was er in seiner freilich schlimmsten Form war: Die Liquidierung einer unsagbar großen Zahl der politisch eigentlich „eigenen Leute“. Da die Linke das längst strikt verurteile, könne und müsse man auch einen Schlussstrich unter diesen Diskurs ziehen. Und man kann es in den ultimativen und selbstherrlichen Alleinvertretungsansprüchen mancher Jüngerer erkennen, deren verinnerlichtes Motto nach wie vor zu lauten scheint: Und willst du nicht mein Bruder sein …
Die erstgenannte Betrachtungsweise verhindert zu begreifen, dass Stalinismus viel mehr war als physischer Terror und dass ihm durch eine Verengung auf diesen – und sei es wider Willen – die Chance auf Reanimierung gewährt wird. Denn Stalinismus als Herrschaftssystem ist nichts weniger als die vollkommene Pervertierung der Marxschen Vorstellung von einer Assoziation, in der die Freiheit jedes Einzelnen die Voraussetzung für die Freiheit aller ist. Stalinismus – das war und ist die Deformation von Menschen, auch und zuvorderst der Genossen, zu funktionierenden Rädchen im Getriebe einer Maschinerie, die im Namen ihrer vorgeblichen Befreiung ganze Gesellschaften zu ihrem Glück zu zwingen versucht. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit stand dabei zwar – wie etwa dialektisches Denken auch – auf dem Banner von Sozialismus und Kommunismus, praktiziert wurde aber in nahezu allen entscheidenden Fragen das Gegenteil.
Weltanschauung und Politik wurden quasi religiös praktiziert: Der unbedingte Glaube an vorgegebene Leitsätze war entscheidend, nicht deren Verständnis, wäre das doch zwangsläufig mit Fragen und Zweifeln zu erarbeiten gewesen. Wenn Hannah Arendt ein „Denken ohne Geländer“ zum Leitspruch ihrer individuellen und freien Meinungsbildung gemacht hat, so galt in den Ländern des ehemals „real existierenden Sozialismus“ und in vielen kommunistischen Parteien anderswo das Gegenteil: kein Denkweg ohne vorgegebenes Geländer. Und wer die Hand von ihm nahm, hatte mindestens Ärger zu gewärtigen – bis hin zum Ausschluss aus der Kirche der Partei – wenn man Glück hatte ohne „rechtsstaatliche“ Folgen.
Das alles hätte den besagten Zeiten selbst entnommen werden können. Und vielleicht haben das ja mehr getan, als sich dies jedenfalls zeigte – in besagten Parteien. Aber geredet wurde darüber allenfalls hinter vorgehaltner Hand in jenem „Kampfbund der Gleichgesinnten“ „Mangelnder Meinungsstreit aber“, so hatte Jürgen Kuczynski in seinem (nach siebenjähriger Verzögerung) 1983 dann doch erschienenen Buch „Dialog mit meinem Urenkel“ resümiert, „muß unter allen Umständen für die Wissenschaft und auch auf anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens gefährlich sein. Ich würde sagen, die Folgen der ‚Stalinzeit‘ sind heute noch in vielen von uns, sicherlich auch in mir, spürbar, ohne daß wir uns dessen bewußt sind.“
Freilich, vieles hat sich in linken Parteien nach der Systemniederlage ausgangs des 20. Jahrhunderts zum Besseren verändert. Gestritten wird nun fast schon mehr, als dies gut ist. Aber stalinistische Alleinvertretungsansprüche der jeweils eigenen Position sind dabei nach wie vor nicht zu übersehen. Und das ist das Problem und eben kein Nachdenken „über Wege zum Kommunismus“ im Marxschen Sinne.
Wie auch immer – die Linke wird nicht umhinkommen, sich weiter mit dem Stalinismus zu befassen, ob es diese oder jene Protagonisten, Gruppen oder Plattformen nun mögen oder nicht.
Das Blättchen ist nun keineswegs so vermessen, auf seinen Seiten eine finale Klärung dieser Debatte herbeiführen zu wollen. Denkanstöße zu vermitteln wäre aber auch schon etwas Nützliches, und deshalb publizieren wir –  abweichend von unserer üblichen Veröffentlichungspraxis – in dieser Sonderausgabe einen Essay unseres Autors Erhard Crome. Zu Meinungsäußerungen dazu im Forum unserer Homepage wird hiermit ausdrücklich ermuntert. Auch in diesem Falle nehmen wir uns zur Leitschnur, was Kurt Tucholsky 1929 in seinem Text „Die Rolle des Intellektuellen in der Partei“, schrieb: „Die ‚Weltbühne‘ ist eine Tribüne, in der die gesamte deutsche Linke in des Wortes weitester Bedeutung zu Wort kommt; wir verlangen von unseren Mitarbeitern Klarheit, persönliche Sauberkeit und guten Stil. Ob dieser Grundsatz richtig ist oder nicht, ist eine andere Frage; so habe ich das Blatt von meinem verstorbenen Lehrmeister Siegfried Jacobsohn übernommen und so habe ich es an Carl von Ossietzky weitergegeben, der keinen Finger breit von dieser Richtung abgewichen ist. Die ‚Weltbühne‘ verzichtet bewußt auf ein starres Dogma; bei uns wird diskutiert.“

Heinz Jakubowski