14. Jahrgang | Nummer 18 | 5. September 2011

Blinde Retter

von Mahmood Mamdani

Der Sudan hat sich soeben in zwei souveräne Staaten gespalten. Kaum, dass die diesbezüglichen Feierlichkeiten vorüber sind, bahnen sich die ersten Konflikte an, die mit Erdölförderung und -transport zu tun haben. Erstere ist die Domäne des Südens, die Pipeline zur Küste wird hingegen vom Norden kontrolliert. Die geopolitische Erfahrung mit solchen Konflikten lässt wenig Gutes erwarten. Zumal sie nicht die einzige ist, an der sich interessenbedingte Kollusionen zu entzünden vermögen; Darfur war und ist ein weiteres Dauer-Konfliktfeld dieser Region. Zum besseren Verständnis des Letzteren trägt verdienstvoller Weise ein Buch bei, das unlängst bei Nautilus erschienen ist und Interessenten sehr zur Lektüre zu empfehlen ist, die sich mit oberflächlichen Erklärungsmustern nicht zufrieden geben wollen. Anregend in diesem Sinne möge die im Folgenden mit freundlicher Genehmigung durch den Verlag übernommene Einleitung dieser Edition sein.

Die Redaktion

Die Betreiber der Kampagne „Save Darfur“ („Rettet Darfur“) behaupten, aus Ruanda gelernt zu haben. Die Frage, welche Lehre denn daraus zu ziehen sei, beantworten sie typischerweise wie folgt: Man müsse Menschen aus ihrer Not befreien, bevor es zu spät sei, müsse handeln, noch ehe man recht begreife, was überhaupt vor sich gehe. Auch wenn dies nie ausdrücklich hinzugefügt wird – Ruanda soll uns daran erinnern, dass Verstehen schlicht zu lange dauern kann. Wir hätten damals versucht zu begreifen, worin der Unterschied zwischen Hutu und Tutsi bestand und warum die einen die anderen umbrachten. Wir hätten Unwissenheit vorgeschützt, um unsere abwartende Haltung zu rechtfertigen. Irgend-wann sei es dann zu spät gewesen. Diejenigen, die sich im Namen der Menschenrechte für eine Intervention in Darfur aussprechen, verweisen auf die Fehler von damals und fordern ein Umdenken. Manchmal sei sofortiges Einschreiten nun einmal moralische Pflicht – nämlich dann, wenn ein Völkermord stattfinde.
Aber woher nehmen wir die Gewissheit, dass es sich um Völkermord handelt? Von denjenigen, die uns versichern, dass es einer ist. Deswegen ist die begriffliche Auseinandersetzung überaus wichtig: In dem Moment, wo Darfur als Schauplatz eines Völkermords gilt, fühlen sich die Leute an etwas erinnert, was sie bereits aus anderen Zusammenhängen kennen. Sie meinen dann, genug gesehen zu haben, um Handlungsbedarf feststellen zu können. Mehr Hintergrundwissen braucht es ihrer Meinung nach nicht. Sie wollen Taten sehen. Der Umstand, dass Menschen getötet werden, macht jedoch noch keinen Völkermord aus. Getötet wird im Krieg, bei Aufständen und bei der Aufstandsbekämpfung. Nur das Töten mit der Absicht, eine ganze Gruppe – zum Beispiel eine „Rasse“ – auszulöschen, ist Völkermord.
Diejenigen, die dem Handeln den Vorrang gegenüber dem Verstehen einräumen, gehen davon aus, dass der Begriff Völkermord an den Folgen des Tötens und nicht an seinem Kontext oder seinen Ursachen festgemacht wird. Aber wie sollen wir herausfinden, was für eine „Absicht“ dahintersteckt, wenn wir neben den Folgen nicht auch den Kontext berücksichtigen? Nur anhand der Verbindung zwischen diesen beiden lässt sich feststellen, welches Wort den Sachverhalt wirklich trifft.
Wie wir sehen werden, war die Gewalt in Darfur auf zweierlei zurückzuführen: auf ein lokales und ein nationales Problem. Innerhalb Darfurs kreisten die Auseinandersetzungen vor allem um die Landfrage, die wiederum aus zwei Gründen Zündstoff barg: erstens aufgrund des kolonialen Erbes einer Parzellierung Darfurs, bei der nur manchen der dort lebenden Stämme eine eigene Heimstatt zugesprochen worden war, während andere leer ausgingen; und zweitens aufgrund der Tatsache, dass der Konflikt zwischen landbesitzenden und landlosen Stämmen durch eine über vier Jahrzehnte anhaltende Dürre und Desertifikation verschärft wurde. Zu dieser innerdarfurischen Dimension der Gewalt kam noch eine nationale hinzu, als sich der Staat aufgrund einer Rebellion zur Einmischung in den Bürger- beziehungsweise Stammeskrieg veranlasst sah.
Der Konflikt begann als ein auf Darfur beschränkter Bürgerkrieg (1987–89) und mündete (ab 2003) in eine Rebellion. Die Auffassung, dass Darfur Schauplatz eines Völkermords war, wurde von einer der beiden Bürgerkriegsparteien vertreten – von den landbesitzenden Stämmen, die jenen anderen Stämmen, die über gar kein oder nur wenig Land verfügten und nun vor der sich ausbreitenden Wüste und Dürre flohen, den Zutritt zu verwehren suchten. Bereits auf der Darfur-Versöhnungskonferenz von 1989 sprach diese eine Seite von „Völkermord“, ja sogar von einem „Holocaust“, doch richtete sich ihr Vorwurf an die von ihr bekämpfte Stammeskoalition, nicht an die Regierung des Sudans. Ungeachtet dieses bedeutenden Unterschieds hielten jene, die 2004 im „U.S. Holocaust Memorial Museum“ wegen Völkermords Alarm schlugen, an dieser Sichtweise fest, und ihre Wortwahl fand noch im selben Jahr Eingang in eine von beiden Kammern des US-Kongresses einstimmig verabschiedete Resolution.
Beobachtern fiel das außerordentlich brutale Vorgehen beider Bürgerkriegsparteien auf. Diese Brutalität erklärte sich zum Teil aus dem Nullsummencharakter des Konflikts: Für die um Land kämpfenden Gruppen ging es ums Überleben. Zu der Tatsache, dass ohnehin viel auf dem Spiel stand, kam noch hinzu, dass dieser erbitterte Konflikt mit tödlichen, von ausländischen Mächten bereitgestellten Waffen ausgetragen wurde. In der Anfangsphase kamen diese Waffen von jenen, die sich im Tschad zur Zeit des Kalten Kriegs als Kontrahenten gegenüberstanden: von Oberst Muammar al-Gaddafi in Libyen auf der einen und der antilibyschen Triade (bestehend aus den USA unter Präsident Ronald Reagan, Frankreich und Israel) auf der anderen Seite. Mit dem Ausbruch der Rebellion trat dann die sudanesische Regierung auf den Plan, um den Aufstand brutal niederzuschlagen – just als sich die Manager des „Kriegs gegen den Terror“ daranmachten, ebendiese Regierung als völkermörderisch hinzustellen und die Aufständischen im Namen der Gerechtigkeit zu beschützen.
Über die Gewalt in Darfur für die Zeit nach 2003 liegen zwei internationale Berichte vor. Der erste stammt von der UN-Untersuchungskommission zum Darfurkonflikt (2005), der zweite vom Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (2008). Mit der Landfrage, die den Bürgerkrieg in Darfur zwei Jahrzehnte lang antrieb, befasste sich keiner der beiden Berichte. Stattdessen ging es darin um jene, die zur weiteren Militarisierung des Konflikts beigetragen hatten, doch wurde nicht einmal dieser Aspekt umfassend beleuchtet. In den Blickpunkt gerückt wurde vielmehr nur die Rolle der sudanesischen Regierung. Inwieweit regionale und internationale Mächte während des Kalten Kriegs und im Zuge des anschließenden „Kriegs gegen den Terror“ zur Verschärfung und Militarisierung des Konflikts beigetragen hatten, darüber schwiegen sich beide Berichte aus.
Die UN-Kommission kam zu dem Schluss, „dass die Regierung des Sudans keine völkermörderische Politik verfolgte“, denn dazu hätte es einer „völkermörderischen Absicht“ bedurft, die, so schloss die Kommission aus dem Kontext der Gewalt, nicht vorhanden war: „Absicht derer, die Angriffe auf Dörfer planten oder durchführten, scheint es gewesen zu sein, die Opfer vorwiegend zu Zwecken der Aufstandsniederschlagung aus ihrem Heimatort zu verjagen.“
Dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs dem sudanesischen Staatspräsidenten Umar Hassan Ahmad al-Baschir dennoch Völkermord vorwarf, geschah – unter Ausblendung des Kontextes – allein mit Blick auf die Folgen der Gewalt.
Sehen wir uns einmal die Zahl der Opfer an, deren Tod auf die in Darfur herrschende Gewalt zurückgeführt wird, und vergleichen wir sie mit den entsprechenden Statistiken aus einem anderen Land: dem Irak. Der Aufstand in Darfur begann 2003, dem Jahr der US-amerikanischen Irak-Invasion. Ich werde mich mit der Zahl der „zusätzlichenTodesfälle“ (also jenen Todesfällen, die über das normalerweise zu erwartende Maß hinausgehen) ausführlicher in Kapitel 1 befassen. An dieser Stelle möge der Hinweis genügen, dass bei den Schätzungen für den Zeitraum mit den schlimmsten Auswüchsen (2003–04) von 70.000 bis 400.000 Toten ausgegangen wird. Sehen wir uns nun zum Vergleich die entsprechenden Zahlen für den Irak an. Für den Zeitraum seit dem US-amerikanischen Einmarsch liegen drei Schätzungen zu zusätzlichen Todesfällen vor. Die niedrigste umfassende Schätzung, veröffentlicht im New England Journal of Medicine, beruht auf einer Erhebung des irakischen Gesundheitsministeriums und geht von 400.000 Toten aus, von denen 151.000 „gewaltsam“ zu Tode gekommen seien. Nach einer Schätzung des britischen Ärztefachblatts The Lancet gab es 654.965 zusätzliche Todesfälle, von denen wiederum 601.027 auf Gewalteinwirkung zurückzuführen gewesen sein sollen. Die höchste Schätzung stammt von dem in London ansässigen unabhängigen Meinungsforschungsinstitut „Opinion Research Business“: Demnach starben durch den Konflikt bedingt 1.033.000 Menschen eines gewaltsamen Todes. Die beiden erstgenannten Schätzungen beziehen sich auf die Zeit vom Einmarsch 2003 bis zum Juni 2006, die dritte Schätzung auf die Zeit vom Einmarsch bis zum August 2007.
Nicht nur, dass die Zahl der Todesopfer im Irak mit Schätzungen zwischen 400.000 und 1.033.000 sehr viel höher zu veranschlagen ist als in Darfur; auch in Bezug auf die Gesamtzahl zusätzlicher Todesfälle ist der Anteil derjenigen, die eines gewaltsamen Todes starben, im Irak ungleich höher als in Darfur: im Irak zwischen 38 und annähernd 92 Prozent, in Darfur zwischen 20 und 30 Prozent. Warum also bezeichnen wir das Töten in Darfur, nicht aber das Töten im Irak als Völkermord? Liegt es daran, dass die Diskrepanz zwischen den Zahlen zusätzlicher Todesfälle, ob durch direkte Gewalteinwirkung verursacht oder mit der Gewalt in Verbindung stehend, keine Rolle spielt und allein die Tatsache zählt, dass Opfer und Täter in Darfur – anders als im Irak – unterschiedlichen „Rassen“ angehören? Diese Erklärung ist zwar die gängige, entspricht aber nicht den Tatsachen.
Diejenigen, die im Jahr 2004 Alarm schlugen, behaupten seit nunmehr fast vier Jahren, die Gewalt in Darfur sei rassisch motiviert: Die Täter seien „hellhäutige Araber“, die Opfer „schwarze Afrikaner“. In den folgenden Kapiteln werde ich darlegen, dass dieser Ansatz nur in die Irre führen kann, beruht doch die ihm zugrunde liegende rassische Kategorisierung der Völker des Sudans auf einer Idee der einstigen Kolonialherren.
Dieses Buch will den Leser dazu anregen, angesichts der Ereignisse in Darfur auch noch einmal über Ruanda nachzudenken. Es geht mir nicht darum, denjenigen, der sich im Besitz moralischer Gewissheit wähnt, zum Handeln aufzufordern; vielmehr richten sich meine Ausführungen gegen jene, die Faktenwissen durch moralische Gewissheit ersetzen und selbst dann noch meinen, auf dem Pfad der Tugend zu wandeln, wenn ihr Tun völlige Unkenntnis offenbart.
Darfur sollte all jenen eine Warnung sein, die zuallererst handeln wollen und das Verstehen auf später verschieben. Nur wer über unverhältnismäßige Macht verfügt, kann es sich leisten, Faktenwissen als irrelevant abzutun und die Frage nach den Folgen seines Tuns hintanzustellen. Diese Denkart treibt nicht nur den „Krieg gegen den Terror“ an; dem in die Reihen der Terrorkrieger aufgenommenen Menschenrechtsinterventionisten bietet sie überdies die Möglichkeit, sich zur eigenen Erbauung als Wohltäter zu gerieren. Dieser Feel-Good-Imperativ lässt sich wie folgt zusammenfassen: Hauptsache, die Sache verschafft mir persönlich Befriedigung, der Rest braucht mich nicht zu tangieren. Somit passt die Gesinnung derer, die sich zu Rettern Darfurs aufschwingen, genau zu jener, die beim „Krieg gegen den Terror“ vorherrscht, weshalb die Bewegung als humanitäres Aushängeschild dieses Krieges bestens geeignet ist.
Im Gegensatz zu jenen, die es für sinnvoll halten, aufs Geratewohl in Aktionismus zu verfallen, schlage ich vor, dass wir unablässig – das heißt, auch ohne vorherigen Weckruf – versuchen, die Welt, in der wir leben, zu verstehen, und dann auf Grundlage dieses Wissens handeln. Natürlich kann es passieren, dass unsere Kenntnisse unzulänglich sind. Wir dürfen deswegen aber nicht den Fehler begehen, Faktenwissen als unwesentlich abzutun.
Die Aktivisten von „Save Darfur“ verbinden Verachtung gegenüber dem Faktenstudium mit einem Pflichtgebot zu handeln. Um keine Assoziationen an deutsches Duckmäusertum unter Hitler zu wecken, versuchen sie bei ihren Protesten tunlichst den Eindruck zu vermeiden, sie würden mit Kritik an ihrer eigenen Regierung hinterm Berg halten. (Kritik an der Regierung Chinas gehört allerdings seit einer Weile ebenfalls zum Programm.) Meldet sich ein Experte zu Wort, winken sie ab. Dieser verstelle mit seinen Details doch nur den Blick auf das Wesentliche und mache die Sache unnötig kompliziert, sagen sie dann. Sie ziehen es vor, jeder Kontextdiskussion aus dem Weg zu gehen und sich an Fernsehbilder zu halten. Indem sie sich aber mit Bildern und Interviews begnügen, sorgen sie dafür, dass der „CNN-Effekt“ eine ganze Bewegung in seinen Bann schlägt. So wie den Deutschen einst beigebracht wurde, ihren Führern zu vertrauen und vorerst keine Fragen zu stellen, so wird den zur Rettung Darfurs mobilisierten Gutmenschen beigebracht, den Fernsehbildern zu vertrauen und sich ihre Fragen für später aufzuheben. Vor allem berauben diese Leute Darfur und die dort herrschende Gewalt jeglichen Kontextes.
Ich betrachte Darfur – wie auch Ruanda – im nationalen, afrikanischen und globalen Kontext, und dieser Kontext bestand in den letzten hundert Jahren aus Kolonialismus, dem Kalten Krieg und dem „Krieg gegen den Terror“. Im Jahr 2001 schrieb ich ein Buch über den Völkermord in Ruanda, in dem ich mit Blick auf jene, die sich gegen völkermörderische Gewalt zur Wehr setzten, vor einer Ethik der Straffreiheit warnte. Einige der Millionen Menschen, die im Kongo zwischen 1998 und 2002 umgebracht wurden, starben aufgrund der Gewährung einer solchen Straffreiheit. Gleichzeitig warnte ich in Bezug auf den ruandischen Völkermord vor Siegerjustiz à la Nürnberg. Auf einem Kontinent, auf dem unerbittliche Strafverfolgung in den Jahren seit der Unabhängigkeit schon allzu oft in Rache umgeschlagen ist, sollte man eher eine Rechtsprechung durch die Überlebenden anstreben. Diese würde sich an dem Wandel Südafrikas hin zu einer apartheidlosen Gesellschaft orientieren. Das heißt, sie würde das Versöhnen dem Bestrafen vorziehen. Sie würde nach vorn schauen statt zurück.
Dass die Gewalt in Darfur als Völkermord bezeichnet wurde, hatte drei Folgen: Erstens wurde, weil es nun einmal einen „Völkermord“ zu beenden gelte, jede Auseinandersetzung mit dem Kontext vertagt und die Sichtweise einer der am Bürgerkrieg der Jahre 1987 bis 1989 beteiligten Parteien übernommen. Zweitens konnte sich ebendiese Kriegspartei auf Straffreiheit verlassen, weil ihr Vorgehen als der Versuch dargestellt wurde, sich eines Völkermords zu erwehren. Und drittens diente die Bezeichnung „Völkermord“ – Mord aus Rassenhass – dazu, die Einordnung der Konfliktparteien nach Rassekriterien zu forcieren und denjenigen, die eher nach Strafe denn nach Versöhnung rufen, Legitimität zu verleihen. Insofern muss die „Save Darfur“-Bewegung einen Teil der Verantwortung für die ausbleibende Versöhnung tragen. Zwar hatten ihre Aktivitäten zunächst eine durchaus heilsame Wirkung, weil die Welt dadurch auf die schreckliche Gewalt in Darfur in den Jahren 2003/04 aufmerksam wurde; indem die Bewegung aber unentwegt nach Bestrafung rief, leistete sie der Rachsucht Vorschub.
Zwischen Ruanda und Darfur besteht ein bedeutender Unterschied. Ruanda war Schauplatz eines Völkermords, Darfur ist es nicht. Vielmehr ist Darfur Schauplatz einer Begriffsinstrumentalisierung, ein Ort, an dem der Begriff „Völkermord“ für ideologische Zwecke missbraucht wird.
Der Sudan ist in seinen heutigen Grenzen der größte Staat Afrikas* – seine Flächenausdehnung entspricht in etwa jener Westeuropas. Die riesige Kolonie entstand im frühen 19. Jahrhundert, erobert vom Ägypten Mohammed Alis. Da sein Staat formell unter der Oberhoheit des Sultans in Konstantinopel stand, sprach man von der Turkija. Die Turkija brachte neben dem zuerst eroberten Niltal von Assuan bis Khartum weitere riesige Gebiete unter ihre Kontrolle: das Fundsch-Sultanat in Zentralsudan, weite Gebiete im Westen (Kordofan) sowie die südliche Peripherie, die über die Jahrhunderte vom Fundsch-Sultanat und vom Sultanat Dar Fur als Reservat für lohnende Beutezüge betrachtet wurde. Dabei ging es ihnen vor allem um Sklaven und Elfenbein.
Die beiden Sultanate – Fundsch und Dar Fur – machten zusammen den Großteil des nördlichen Sudans aus und umfassten seine beiden ökologischen Hauptzonen. Der Zentralsudan wird vom Nil ganzjährig mit Wasser versorgt und deswegen auch als Nilsudan bezeichnet. Die beiden Hauptzuflüsse des Nils, der Blaue und der Weiße Nil, fließen von Äthiopien beziehungsweise Uganda in den Sudan hinein und treffen in Khartum (der Name bedeutet „Elefantenrüssel“) aufeinander. Von dort fließt der Strom gen Norden nach Ägypten. Trotz des Nils ist das Land klimatisch zweigeteilt: Die eine Hälfte besteht aus Wüste oder Halbwüste, die andere Hälfte (abgesehen von einem Prozent Gebirgsvegetation) aus Savanne, Sumpf und Urwald mit unterschiedlicher Niederschlagsmenge.
Im Gegensatz zum Nilsudan sind die westlich gelegenen Provinzen (Darfur und Kordofan) zur Wasserversorgung vollständig auf Regenfälle angewiesen. Politisch gehört Darfur zwar zum Sudan, aber geografisch ähnelt die Provinz den drei Nachbarländern: dem Tschad, Libyen und der Zentralafrikanischen Republik. Darum hat Darfur auch, was die Lebensweise und die Geschichte betrifft, viel mit diesen Dreien gemein, vor allem mit dem Tschad.
Darfur, die westlichste Provinz des Sudans, ist ungefähr so groß wie Frankreich. Das historische Gedächtnis der Darfuris ist im 1650 gegründeten Sultanat Dar Fur verankert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der bis dahin unabhängige Staat durch die Turkija und anschließend durch Großbritannien kolonisiert. Die britische Kolonisierung vollzog sich in zwei Phasen. In der ersten Phase, die 1898 begann, war Darfur zwar auf dem Papier ein unabhängiger Staat, in Wirklichkeit aber ein Semiprotektorat Großbritanniens. Die vollständige Kolonisierung erfolgte 1916 mit der Eingliederung Darfurs in den Angloägyptischen Sudan. Historiker unterscheiden zwischen dem Sultanat und der in den kolonisierten Sudan eingegliederten Provinz, also zwischen dem Sultanat Dar Fur und der Provinz Darfur.
So wie der Nil die Lebensader des Zentralsudans ist, so bildet der eindrucksvolle, saftgrüne Dschebel Marra das Herz Darfurs (dschebel bedeutet „Berg“). Das Gebirge besteht aus einer Reihe von erloschenen Vulkanen, ist über 100 Kilometer lang und knapp 50 Kilometer breit, erreicht eine Höhe von rund 3.000 Metern und teilt die Provinz ungefähr in Nord-Süd-Richtung in zwei etwa gleich große Hälften. Nach Osten hin markierte das Marra-Gebirge die historische Grenze des kulturellen Einflusses aus der Nilgegend; gleichzeitig diente es den Sultanen von Dar Fur als Basis für ihre Herrschaftsausdehnung nach Westen. In den 1940er Jahren, als die Region von der Saheldürre heimgesucht wurde und die Wüste sich nach Süden auszubreiten begann – in vier Jahrzehnten rückte sie 100 Kilometer weit vor –, setzten sich auch viele Sahelbewohner, nomadische wie sesshafte, in Bewegung. Einige von ihnen zogen südwärts, andere gen Osten, aber sie alle machten sich auf in Richtung Dschebel Marra, an dessen Südseite der Bahr al-Arab (der wiederum den Weißen Nil speist) entlangfließt. In einem zunehmend trockenen Land gilt dieser Ort als der einzige Nahrungsgarant. Genauso wie die Dürre vor keiner Grenze Halt machte, hörten auch die betroffenen Bewohner auf, sich um Grenzen zu kümmern, seien es solche zwischen Staaten oder solche zwischen Stammesgebieten. Aus ihrer Sicht galt es bloß, Mittel und Wege zu finden, um zu überleben.
Die Provinz Darfur besteht aus drei geografischen Zonen, vom tropischen Grün des Marra-Gebirges bis zur Trockenwüste ganz im Norden. Im Zentrum des Hauptkraters in der südwestlichen Ecke des Dschebel Marra, wo es zwei Seen – einen Salzwasser- und einen Süßwassersee – gibt, befindet sich die üppigste Vegetation des Sudans. Äpfel, Weintrauben, Erdbeeren und süße Orangen gedeihen in diesem gemäßigten Klima prächtig. Es fällt viel Regen, und die Gefahr dürrebedingter Missernten ist gering. Von der Wasserscheide auf der Westseite des Gebirges gehen mehrere große Wadis (saisonale Flüsse) ab. Dank der Wadis ist die Gegend gut mit Wasser versorgt. Damit bietet sie den Menschen einen Anreiz, sich hier niederzulassen und dauerhaft Ackerbau zu treiben. Zwar fließt das Wasser nur saisonal, aber die Flussbetten versorgen die nach der Überflutung bestellten Felder sowie jene Ländereien, die ihr Wasser von den umliegenden Brunnen beziehen, dennoch ganzjährig mit Wasser. Aufgrund der regelmäßigen Überflutungen setzt sich auf den terrassierten Ufern der bedeutendsten Wadis fruchtbarer Alluvialboden ab, so zum Beispiel beim Wadi Asum im Südwesten und Wadi Barei im Westen. Damit sind sie für die landwirtschaftliche Nutzung wie geschaffen. Kein Wunder also, dass die Gebiete um das Dschebel Marra und in Dar Massalit in der westlichen Region Darfurs, zwischen dem Hochland und der Grenze zum Tschad, zu den fruchtbarsten Ackerböden des Sudans zählen, wo Bauern Getreide für den heimischen Bedarf sowie Obst (Mangos, Orangen) für die Märkte erzeugen.
Die zweite geografische Zone der Provinz ist die kos genannte südliche Savannenregion. In dieser endlos weiten, flachen und sandigen Dünenregion, die sich über Zentral- und Süddarfur sowie über das benachbarte Kordofan erstreckt, findet sich eine große Vegetationsvielfalt (Gras, Bäume). Die Bandbreite der im Regen- und Bewässerungsfeldbau erwirtschafteten Produkte reicht von Zitrusfrüchten und Kolbenhirse über Tabak und Baumwolle bis hin zu Tomaten und Melonen. Die Niederschlagsmenge in der zentralen kos reicht für die Landwirtschaft aus, da das zusätzliche Regenwasser in temporären Oberflächendrainage-systemen aufgefangen wird. Aufgrund der einigermaßen regelmäßigen Regenfälle und saisonalen Wasserläufe leben in der kos sowohl sesshafte Bauern als auch umherziehende Rinderhirten.
Im Norden befindet sich die wasserlose Wüste, die ein Drittel des darfurischen Territoriums einnimmt. Nur an ihrem Südrand fällt gelegentlich Regen. In dieser Übergangszone zwischen Savanne und Wüste liegt eine dritte Zone mit spärlichen und unregelmäßigen Niederschlägen. Dies ist die Sahelzone, die sich vom Senegal bis zum Sudan erstreckt und sich in westöstlicher Richtung wie ein schmales Band zwischen der trockenen Sahara im Norden und der feuchten Savanne im Süden hindurchzieht. Ökologisch zeichnet sich diese halbtrockene Zone durch eine sehr lange Trockenzeit von jährlich acht bis elf Monaten aus. Kamele und Schafe können hier gut äsen beziehungsweise grasen, weshalb dies auch die Heimat des Kamelnomadentums ist. Der Sahelgürtel ist seit Menschengedenken von Affenbrotbäumen und Akazien bewachsen und mit spärlichem Gras bedeckt. Seit Ende des 20. Jahrhunderts machen sich hier jedoch Desertifikation und Bodenerosion bemerkbar, eine Entwicklung, die teils auf natürlichen Klimawandel, teils auf menschliche Aktivität zurückzuführen ist.
So verschieden wie die Lebensräume – Hochland, Savanne und Sahelgürtel – sind auch die Lebensweisen ihrer Bewohner. Im zentralen Hochland wird Regenfeldbau betrieben, in der südlichen Savanne herrscht Rindernomadentum vor, und für die nördlichen und nordöstlichen Provinzregionen ist das Kamelnomadentum kennzeichnend. Kamele und Rinder leben in unterschiedlichen ökologischen Zonen. Dort wo es feucht oder sumpfig ist und wo es Stechfliegen gibt, können Kamele nicht überleben. Deswegen leben auch die Nomaden von Darfur in unterschiedlichen Gürteln: dem Kamelgürtel im Norden, unweit der Sahara, und dem Rindergürtel im Süden, unweit des mit Regen versorgten Äquators. Inwiefern sich das Rinder- vom Kamelnomadentum unterscheidet, lässt sich schon an einer einzigen Tatsache veranschaulichen: Anders als Rinder, die normalerweise Gräser und Erntereste zu fressen bekommen, beziehen Kamele ihre Nahrung hauptsächlich von Bäumen. Anders als Rindernomaden sind Kamelnomaden ständig in Bewegung. Sie schlagen ihre Lager fernab der Dörfer auf und ziehen es vor, die ausgedehnten Baumgürtel in den Niederungen zu nutzen. Aus Sicht der Bauern neigen Kamelzüchter dazu, dem Baumbestand zu stark zuzusetzen. Allgemein kann man sagen, dass Rindernomaden in der Regel eine symbiotische Beziehung zu sesshaften Bauern haben, während sich die Beziehung zwischen Kamelnomaden und niedergelassenen Gruppen typischerweise eher schwierig gestaltet.
Bis zur Saheldürre der 1960er Jahre hielt jede Nomadengruppe den ihr eigenen Wanderzyklus ein, entweder in dem Gürtel, der im Süden an die Sumpf- und Fliegenregion grenzt, oder entlang der Halbwüste im Norden. Die Notwendigkeit, je nach Jahreszeit Zugang zu verschiedenen Arten von Land zu haben, diktierte den Charakter von Wasser-, Weide- und Kultivierungsrechten: Die Nutzung von Weideland und Oberflächenwasser war gemeinschaftlich geregelt, Gärten und Brunnen waren Privateigentum. Das ständige Umherziehen brachte es mit sich, dass die Beziehung zur politischen Macht ebenfalls ständig im Wandel begriffen war. Dies wiederum führte zu einem Prozess von Trennung, Migration und Neuansiedlung, und zwar sowohl innerhalb verwandtschaftlich organisierter Gruppen als auch unter Beteiligung anderer solcher Gruppen. Insofern war von engen verwandtschaftlichen Beziehungen noch lange nicht auf ebenso enge politische Allianzen zu schließen, weder auf höchster noch auf niedrigster Ebene.
Die Baggara (arabisch: „Rinderleute“) sind arabischsprachige Rindernomaden, die sowohl im Sudan als auch im Tschad leben. Der „Baggara-Gürtel“ erstreckt sich vom Weißen Nil im Osten bis zum Tschadsee im Westen und verläuft unmittelbar südlich der alten Sultanate Fundsch, Dar Fur, Wadai, Baguirmi und Borno. Am 10. Grad nördlicher Breite gelegen, herrschen in dem Gürtel recht einheitliche Witterungsbedingungen. Hinsichtlich Bodenqualität und Vegetation gibt es ebenfalls kaum Unterschiede. Für die nomadische Rinderhaltung bietet sich dieser Landstrich geradezu an. Bewohnt wird er zwar von vielen Gruppen, arabischen wie nichtarabischen, Hirten wie Bauern; aber die Baggara sind hier am zahlreichsten vertreten und gelten als typisch für diese Gegend. Die Kamelnomaden im Norden heißen hingegen Abbala.
Die Länder der Sahelzone litten in den frühen 1970er Jahren und abermals in den 1980er Jahren unter einer verheerenden Dürre und Hungersnot. Im Sudan waren die zentral und nördlich gelegenen Bundesstaaten am schlimmsten betroffen, vor allem Nordkordofan, der nördliche Nil, Nord- und West-Darfur sowie die nach Rotem Meer und Weißem Nil benannten Bundesstaaten. Im Zuge der extremsten Dürreperiode – sie dauerte von 1980 bis 1984 – kam es vielfach zu Vertreibungen und örtlicher Hungersnot. Wie ein Vergleich verschiedener Gegenden der afrikanischen Sahelzone beweist, hatte Dürre durchaus nicht zwangsläufig Hungersnot zur Folge; und wie ein Vergleich der am schlimmsten betroffenen Regionen des nördlichen Sudans – etwa Kordofan und Darfur – beweist, führte Hungersnot auch keineswegs automatisch zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Für ein Verständnis des ethnisierten Konflikts in Darfur ist es wichtig, die ökologische Krise im Hinterkopf zu behalten, aber sie allein erklärt noch nicht, wie es zur Tragödie kam. Um dies zu verstehen, müssen wir unser Augenmerk auf jene Institutionen und Kräfte richten, deren sich Machthaber und Volk bedienten, um auf die Krise zu reagieren – Institutionen und Kräfte in Darfur, im Sudan, in der Sahelzone und in der „internationalen Gemeinschaft“ (so der von den Westmächten seit Ende des Kalten Kriegs bevorzugte Nom de Guerre). Es steht außer Frage, dass der Gewaltspirale in Darfur mehrere Spannungen zugrunde liegen, die sich gleichsam wellenförmig ausbreiteten: angefangen bei den lokalen und nationalen über die regionalen bis hin zu den globalen. Die lokalen Spannungen ergeben sich aus dem Kolonialsystem und der Tatsache, dass es auf nationaler Ebene versäumt wurde, dieses System zu reformieren; die regionalen und globalen Spannungen ergeben sich aus dem Kalten Krieg und dem „Krieg gegen den Terror“.
Meine erste Sudanreise unternahm ich Mitte der 1970er Jahre. Ich war damals ein junger Dozent an der Universität Daressalam, und eine der eritreischen Rebellenbewegungen hatte mich und einen meiner Mitstreiter zu einem Besuch ihrer Stützpunkte eingeladen. Der Sudan war für uns nur Zwischenstation. Wir setzten uns in den Flieger von Daressalam nach Khartum, fuhren von dort aus mit einem klapprigen, vollgestaubten Bus bis zur Grenzstadt Kassala, stiegen dann in einen Toyota um – schon damals war der Landcruiser das von Rebellen in halbtrockenen Zonen bevorzugte Fortbewegungsmittel – und überquerten schließlich die Grenze in der Nähe von Agordat in Eritrea. Ich erinnere mich heute noch an meine Bewunderung für den Fahrer, der das Auto so zielsicher durch die Wüste steuerte, als wäre er ein Schiffskapitän auf hoher See. Pisten sah ich nämlich weit und breit keine.
Erst 2003 erhielt ich erneut Gelegenheit, in den Sudan zu reisen. Es war das Jahr, in dem der bewaffnete Aufstand in Darfur seine volle Wucht zu entfalten begann. Den ersten von zwei Aufenthalten in jenem Jahr widmete ich Begegnungen mit sudanesischen Intellektuellen in und außerhalb der Universität, in der Hoffnung, den Rahmen der sudanesischen Debatte über den Sudan abstecken zu können. Bei meinem zweiten Aufenthalt richtete ich meine Aufmerksamkeit dann stattdessen auf die politischen Parteien und Rebellengruppen.
Seither hat sich meine Beschäftigung mit dem Sudan intensiviert. Dazu gehörten mehrere weitere Sudan- und Darfur-Aufenthalte, die dank finanzieller Unterstützung durch die Ford-Stiftung, die Guggenheim-Stiftung und die Afrikanische Union möglich waren: In den Jahren 2003 bis 2005 hatte ich ein Forschungsstipendium der Ford-Stiftung, von 2007 bis 2008 ein Stipendium der Guggenheim-Stiftung. Das Ford-Stipendium ermöglichte mir erste, das Guggenheim-Stipendium weitere Aufenthalte zwecks Archivarbeit sowohl im Sudan als auch in Großbritannien (beim Staatsarchiv in Khartum und im Sudan-Archiv der britischen Durham University) sowie zwecks Interviews in Darfur. Während eines solchen Aufenthalts im Jahr 2006 nahm ich Kontakt zum Büro der Afrikanischen Union für den sogenannten Darfur-Darfur-Dialog- und-Konsultationsprozess („Darfur-Darfur Dialogue and Consultation“; DDDC) auf. Diese Institution war aufgrund einer Bestimmung im Abkommen von Abuja gegründet worden, die die Förderung von Konsultationen vorsah, und zwar sowohl von Konsultationen mit den verschiedenen Gruppen in Darfur als auch von Konsultationen dieser Gruppen untereinander. Ziel war es, Wege in eine friedlichere Zukunft zu finden. In der Anfangsphase wurden Treffen in den drei Staaten Darfurs – West-Darfur (Salingei), Süd-Darfur (Nyala) und Nord-Darfur (Faschir) – einberufen, wo dann jeweils separat ganztägige Sitzungen mit Vertretern von fünf verschiedenen Gruppen stattfanden: mit traditionellen Führern (bestehend aus der Hierarchie der Stammesführer in der „native administration“), politischen Parteien (Regierung wie Opposition), Vertretern der Binnenvertriebenen aus verschiedenen Lagern, örtlichen Basisorganisationen und schließlich Akademikern und Intellektuellen (in jedem der drei Staaten Darfurs gibt es eine Universität mit einem Zentrum für Konfliktforschung). Die DDDC-Führung bat mich, den Prozess beratend zu begleiten. Meine Aufgabe bestand darin, Hintergrundmaterial zu lesen, an den Sitzungen teilzunehmen, gut zuzuhören und festzustellen, welche Themen und Standpunkte bei der Diskussion bislang außer Acht gelassen worden waren oder der weiteren Erörterung bedurften. Es war der ideale Job, um die Darfurkrise aus vielen verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten.
Je eingehender ich mich mit den gegenwärtigen Problemen befasste, desto mehr wurde mir bewusst, von welchen Grundannahmen die aktuelle Darfur-Diskussion ausging, und umso größer wurde mein Bedürfnis, diese Annahmen kritisch zu hinterfragen, sie also, um es im Akademikerjargon auszudrücken, zu problematisieren. Zur Überprüfung einer Annahme sah ich mir ihre Entstehungsgeschichte an: Wann und in welchem Zusammenhang war diese Annahme aufgekommen, und inwiefern erleichtert oder erschwert sie ein Verständnis unserer Gegenwart? Aufgrund dieser Herangehensweise erhielt meine Forschungsarbeit mit der Zeit zunehmend historischen Charakter.
Der historische Teil dieses Buches stellt den Versuch dar, vier Grundannahmen zu überprüfen, und zwar in Bezug auf Tradition, Stamm, Rasse und Lokalität. In Kapitel 3 („Die Ursprünge des Rassediskurses“) befasse ich mich mit der Grundannahme, von der die koloniale Geschichtsschreibung ausging: dass die Bewohner des Sudans am besten als Angehörige unterschiedlicher Rassen einzuordnen seien. War früher von „Arabern“ und „Surga“ („Schwarzen“) die Rede, so hat sich mittlerweile die Unterscheidung von „Arabern“ und „Afrikanern“ durchgesetzt. Ich untersuche die bemerkenswerte Kontinuität zwischen der kolonialen und der nationalistischen Geschichtsschreibung – beide stellen die Geschichte des Sudans als eine Auseinandersetzung zwischen negroiden „Eingeborenen“ und arabischen „Siedlern“ dar. Aus diesem „Arabisierung“ genannten Prozess soll eine Mischrasse – die Araber des Sudans – hervorgegangen und zivilisiert worden sein. Um aufzuzeigen, wo diese offizielle Geschichtsschreibung an ihre Grenzen stößt, stütze ich mich auf zumeist von historisch interessierten Anthropologen und Politologen verfasste Lokalstudien, die deutlich machen, dass man unmöglich von „der“ Geschichte der „Arabisierung“ beziehungsweise der Araber im Sudan sprechen kann. Selbst die Araber des Nilsudans – des Fundsch-Sultanats – waren unterschiedlicher Herkunft: Es gab dort eingewanderte wie einheimische Araber, wobei letztere in der Mehrheit waren; manche Araber waren Sklavenhalter, aber viele Araber waren ehemalige Sklaven. Was Dar Fur betrifft, so war das dortige Sultanat keine arabische Macht, wie auch die dortige Sklaverei keine arabische Institution war. Vielmehr handelte es sich bei der Sklaverei in Dar Fur um eine von den Fur betriebene Institution, an der die Rindernomaden des Südens (Baggara) als Juniorpartner beteiligt waren. Nicht daran beteiligt waren hingegen die Kamelnomaden des Nordens (Abbala), von denen später, in dem Konflikt der Jahre 2003 und 2004, einige an der von den Dschandschawid angeführten Aufstandsbekämpfung mitwirken sollten. So wie viele ehemalige Sklaven im Nilsudan später die Identität ihrer ehemaligen Herren annahmen und Araber wurden, entschieden sich in Darfur die meisten ehemaligen Sklaven für eine Identität als Fur. Der Kontrast zwischen den Arabern des nördlichen Nilsudans und den Arabern Darfurs ist noch stärker: Erst wenn man sich die große Kluft vor Augen führt, die zwischen den sesshaften Arabern des Nilsudans und den nomadischen Arabern im Westen des Landes (Darfur, Kordofan) besteht, begreift man eine für das Verständnis des Darfurkonflikts wesentliche politische Tatsache: Galt Darfur im Sudan als marginal, so waren es innerhalb Darfurs die Araber, die an den Rand gedrängt wurden. Mit anderen Worten: Die Araber Darfurs wurden gleich doppelt marginalisiert.
Unter Historikern, die sich mit dem Sudan beziehungsweise mit Darfur beschäftigen, und unter Angehörigen der dortigen politischen Klasse ist die Ansicht verbreitet, die Kolonialherren hätten es mit ihrer Zuweisung exklusiver Stammesterritorien (dar) und einer entsprechenden Verwaltungsstruktur („native administration“) gut gemeint und das wichtigste Element darfurischer Tradition – die Stammesidentität – unangetastet gelassen, indem sie beide Systeme nach Altvätersitte an den Stämmen ausrichteten. In Kapitel 4 über das Sultanat Dar Fur und in Kapitel 5 über die Kolonialzeit zeige ich, dass das Sultanat in Wirklichkeit bestrebt gewesen war, tribale, also auf Stammeseinteilungen beruhende Formen von Grundbesitz und Verwaltungsstruktur abzuschaffen, und dass die Kolonialpolitik darauf abzielte, diese Entwicklung aufzuhalten und die darfurische Gesellschaft zu retribalisieren.
In Kapitel 6 („Aufbau von Nation und Staat im unabhängigen Sudan“) verknüpfe ich meine Überlegungen zu den beiden Themenkomplexen Rasse und Tradition, um einen einzigen Punkt herauszuarbeiten: Die Krise des sudanesischen Nationalismus besteht im Kern darin, dass man es versäumt hat, jene von den Kolonialherren ersonnene, begriffliche wie institutionelle Unterscheidung zu hinterfragen, die Moderne und Tradition einander gegenüberstellt und aus dem Diskurs über (Stammes-)Identität einen Diskurs über Rasse macht.
Leider wurden die Annahmen, die der „offiziellen“ Geschichtsschreibung in ihrer kolonialen wie nationalistischen Ausprägung zugrunde liegen, ohne jede kritische Auseinandersetzung in einen Großteil der aktuellen Literatur zum Darfurkonflikt übernommen. Infolgedessen erwecken diese Werke den Eindruck, die Geschichte des Sudans und Darfurs sei die einer Siedlerherrschaft über Eingeborene. Ich zeige, dass weder das Sultanat Fundsch noch das Sultanat Dar Fur ein Siedlerstaat war. Nicht einmal die Fundsch-“Araber“ – jene Kaufleute und religiösen Führer, die im ausgehenden 18. Jahrhundert über der königlichen Macht stehende Regenten einsetzten und sich „Araber“ nannten – waren Siedler. Sie waren nicht weniger einheimisch als der Rest der Bevölkerung. Zu einer „Siedlerrasse“ erklärt wurden sie erst im Zuge einer von der britischen Kolonialmacht durchgeführten Volkszählung im 20. Jahrhundert.
Abschließend gilt es noch der Lokalität nachzugehen, also der Frage, wo der Konflikt seinen Ursprung hat. Es wird gemeinhin angenommen, die Probleme vor Ort seien überwiegend, wenn nicht gar ausschließlich, hausgemacht. Ich vertrete eine andere Auffassung: Die politischen Spannungen, die den im Jahr 1987 ausgebrochenen Bürgerkrieg hervorriefen und schnell militarisierten, waren das Ergebnis einer regionalen und globalen Dynamik, die nach einer regionalen Lösung und einem globalen Eingeständnis von Verantwortung verlangt. Diese regionale Dynamik wurde vom Kalten Krieg ausgelöst und gewinnt derzeit durch den Versuch an Kraft, Afrika in den „Krieg gegen den Terror“ einzubinden. Wie ich in Kapitel 7 („Der Kalte Krieg und die Folgen“) darlege, beruhen die vertracktesten Konflikte im heutigen Afrika – jene in der Region der Großen Seen und am Mano-Fluss – ebenfalls auf einer regionalen Dynamik. Auch sie verlangen nach einer regionalen Lösung.
Nach Überprüfung der in Bezug auf Tradition, Rasse, Stamm und Lokalität bestehenden Grundannahmen kehre ich zu dem Hauptthema dieses Buches zurück, nämlich zur politischen Gewalt in Darfur. Zwischen dieser Gewalt und jener, die der Südsudan zu einer anderen Zeit erlebte, besteht ein großer Unterschied: Der Konflikt in Darfur begann als ein Bürgerkrieg, in den die Regierung ursprünglich nicht verwickelt war. Der Krieg war anfangs, von 1987 bis 1989, eine innerdarfurische Auseinandersetzung; die Regierung schaltete sich erst nach dem islamistischen Staatsstreich von 1989 ein, und die nationalen Oppositionsparteien stießen 2002/03 dazu. Trotz der auf Rassezugehörigkeit fixierten Ideologie, die den Bürgerkrieg in seiner Frühphase anheizte, lagen Mobilmachung und Kriegführung in den Händen von Stammesinstitutionen. Von den Regierungstruppen abgesehen, handelte es sich bei den Kriegsteilnehmern seit jeher um Stammesmilizen sowie um auf Stammesbasis mobilisierte Rebellenbewegungen. Ein Krieg zwischen „Afrikanern“ und „Arabern“ war dies zu keinem Zeitpunkt. Wie ich im dritten Teil dieses Buches darlege („Die Darfurkrise in der Rückschau“), wurden die Auswirkungen der Dürre durch von den Kolonialherren begründete Institutionen gefiltert, die die darfurische Gesellschaft in zwei Lager spalteten: in Stämme mit einem eigenen Stück Land (dar) und solchen ohne. Je mehr ganze Gruppen durch Dürre und Wüstenausbreitung verheert wurden, desto stärker neigten landlose Stämme dazu, in den landbesitzenden Stämmen Gegner zu sehen.
Bei dem Konflikt bildeten sich zwei Achsen heraus. In beiden Fällen bekämpften Stämme, die auf der Suche nach Land (das heißt, nach einer eigenen Heimstatt) waren, Stämme, die schon Land besaßen. Es gab jedoch einen Unterschied: Während es sich bei dem Konflikt auf der Nord-Süd-Achse im Allgemeinen um eine Auseinandersetzung zwischen „arabischen“ und „nichtarabischen“ Stämmen handelte, waren die Stämme, die sich auf der Süd-Süd-Achse bekriegten, auf beiden Seiten „Araber“. Die „Save Darfur“-Kampagne und die Medien in ihrem Gefolge haben die Süd-Süd-Achse dieses Konflikts erfolgreich aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verbannt, um die Gewalt als einen von „arabischen“ Tätern an „afrikanischen“ Opfern verübten Völkermord darstellen zu können.
Im Schlusskapitel schlage ich den Bogen zurück zur Diskussion aus Kapitel 1 und gehe der Frage nach, inwiefern die Kampagne zur „Rettung“ Darfurs auf eine Stärkung des „Kriegs gegen den Terror“ abzielt. Hierbei gilt es sich vor Augen zu halten, dass die „Save Darfur“-Bewegung – wie der „Krieg gegen den Terror“ – keine Friedensbewegung ist: Sie ruft nach militärischer Intervention, nicht nach politischer Versöhnung; es geht ihr ums Bestrafen, nicht ums Friedenstiften.
Abschließend können wir festhalten, dass das Problem Darfurs nach einer Dreifachlösung verlangt. Es bedarf eines regional ausgehandelten Friedensschlusses, einer Reform der Machtstrukturen im Nationalstaat Sudan und einer Boden- und Verwaltungsstrukturreform innerhalb Darfurs.

Mahmood Mamdani: Blinde Retter.Über Dafur, Geopolitik und den Krieg gegen den Terror, Edition Nautilus im Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg 2011, 384 Seiten, 29,90 Euro

Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

* – Diese Klassifizierung ist durch die inzwischen erfolgte Teilung des Staates überholt.