14. Jahrgang | Nummer 7 | 4. April 2011

Kreativität contra Prüfungspraxis

von Thomas Kurt Grieser

Mächtig ist sie angewachsen, die didaktische Ratgeberliteratur zur Bewältigung von Prüfungsstress. Den Autoren geht es meist darum, durch lernpsychologische Tricks und pädagogische Trainingsmaßnahmen die so genannte Leistungsfähigkeit der Lernenden zu steigern und etwaige Prüfungsängste und Schreibblockaden abzubauen. In den letzten Jahren zielen die Publikationen bisweilen auch auf die Entwicklung von Gelassenheit angesichts der immer härter werdenden Anforderungen in einigen Disziplinen. In jedem Fall werden die Ratsuchenden dazu angehalten, das Beste aus der unangenehmen Situation zu machen und sie nicht zu hinterfragen – denn das hieße nicht nur die Autorität der einberufenen Prüfungskommissionen von Fakultäten und Bildungsagenturen anzuzweifeln. Die Anzahl, der Schwierigkeitsgrad und die Bearbeitungszeit der Aufgaben werden in der Regel von den Kommissionsmitgliedern nach fachlicher Expertise und Gutdünken gemäß einer vorher abgestimmten Prüfungsordnung festlegt. Die herrschende gesellschaftliche Leistungsnorm, die dabei wirkt, gelangt jedoch kaum zu Bewusstsein. Nach dem US-amerikanischen Systemtheoretiker Talcott Parsons (1902-1979) bezieht die moderne demokratische Gesellschaft ihre Legitimation unter anderem aus der „universalistischen Orientierung“ in Schule und Hochschule. Diese auf Gerechtigkeit zielende Orientierung soll die durch gleiche Anforderungen begründete Auslese der Leistungsstarken gegenüber den Leistungsschwächeren ermöglichen. Nicht die Herkunft sollte demnach über gesellschaftliche Entwicklungschancen entscheiden, sondern die persönliche Leistungsfähigkeit. Wie aber wird Leistung gemeinhin interpretiert? In der Theorie massenproduktionsgeprägter Ökonomie arbeitet derjenige am effizientesten, der in einer bestimmten Zeit mehr produziert als seine Konkurrenten. Dass diese Logik in den gegenwärtigen Diskursen von „Entschleunigung“ und „Selbstverwirklichung“ vorgestrig anmutet, verhindert nicht, dass im heutigen Bildungswesen meist nach entsprechend antiquiertem Muster verfahren wird, wenn es um die Leistungsermittlung in Prüfungen geht.
Beispiel Hochschulen: Seit der Studienreform wird der größte Teil der Prüfungsleistungen in Bachelor- und Masterstudiengängen durch Klausuren oder schriftliche Abschlussarbeiten erbracht. Jede einzelne Fakultät verfügt über jeweils eigene Prüfungsordnungen, die durch die Prüfungskommissionen Jahr für Jahr neu umgesetzt werden. Prüfungszeiten sind oft vorgeschrieben, die Anzahl der Aufgaben nicht. Auch der Schwierigkeitsgrad und der Aufgabenumfang der Prüfungen werden durch die prüfenden Professoren festgelegt und man vertraut auf deren fachdidaktische Kompetenz. Viele Prüflinge empfinden jedoch die Bearbeitungszeit vor allem in den schriftlichen Prüfungen als zu knapp. In verschiedenen Blogforen lassen sich inzwischen zahlreiche Einzelbelege dazu finden. Psychotherapeuten berichten von einer erhöhten Anzahl von Studierenden, die sich den Leistungsanforderungen nicht gewachsen fühlen. Das mag zum Teil auch auf andere Störfaktoren zurückzuführen sein, scheint aber durch das skizzierte Auslesedenken mit verursacht, das Leistung in erster Linie mit Quantität und nicht mit Qualität assoziiert. Die verbreitete Akzeptanz dieser Einstellung führt dazu, dass es bis heute an empirischen Studien oder Evaluationsvorhaben mangelt, die die Angemessenheit der Bearbeitungszeit in Prüfungen zum Gegenstand haben. Zudem fehlen neutrale Kontrollinstanzen, die für die Diagnose unrealistischer Anforderungen zuständig sind und das Verhältnis von zu lösenden Aufgaben und Zeit überprüfen. Die hochschuldidaktischen Zentren und Arbeitsstellen, die viele Universitäten und Fachhochschulen inzwischen eingerichtet haben, besitzen nur eine Beratungsfunktion und können keine korrigierenden Maßnahmen wie etwa Wiederholungsprüfungen oder Hospitationen verordnen. Ihre Aktivitäten erschöpfen sich daher meist in Kursangeboten für Lehrende und Studierende zur Bewältigung von Prüfungsangst und -stress, das eigentliche Problem wird dabei aber verdeckt: In unserer Gesellschaft geht das Trimmen auf Schnelligkeit und Leistung (im Sinne von Quantität) zunehmend mit einer Tendenz zur Oberflächlichkeit einher.
Bedächtige, kreative Querdenker ziehen bei den gegenwärtigen Prüfungsmodalitäten oft den Kürzeren gegenüber den Studierenden mit verinnerlichtem Reproduktionsmechanismus. Dabei sind die durch die Prüfungspraxis konditionierte Oberflächlichkeit und Phantasielosigkeit prägend für den späteren Arbeits- und Lebensstil. „Tut mir Leid, Chef, aber mehr war in der Zeit einfach nicht drin!“ – diesen Satz hört man nicht nur von Leuten, die unrealistische Vorgaben über eine probate geistige Selbstverteidigungstechnik zurückweisen, sondern auch von denen, die einfach nicht gelernt haben, kreativ zu sein, weil es in Schule und Hochschule weniger um Problematisierungs- und Argumentationsfähigkeit als um die hektische Reproduktion von auswendig Gelerntem ging. Schnelligkeit und Musterlösungsdenken sind jedoch in einer auch auf Originalität angewiesenen Wissensgesellschaft nicht immer von Vorteil. In komplexen und sich verändernden Situationen und Arbeitswelten können sich derartige Routinen als Bumerang herausstellen, weil nicht die schwierig-komplexen, sondern die schnelleren Lösungen und Handlungsstrategien favorisiert werden. Originalität, sensible Wahrnehmung und sorgfältige Darstellungen brauchen Zeit. In die Tiefe zu gehen oder auch „quer“ zum geistigen Mainstream zu denken ist Voraussetzung, um Ideen systematisch zu entfalten und Perspektivenwechsel zu realisieren. Um diese Fähigkeiten stärker zu fördern, wäre eine kritische Neustrukturierung des gesamten Prüfungswesens geboten. Diese könnte sich an den Hochschulen zum Beispiel in der Aufwertung und hochschuldidaktischen Begleitung von mündlichen Prüfungen sowie der Entschärfung des Zeitdrucks durch externe Revision der schriftlichen Prüfungsanforderungen konkretisieren.