13. Jahrgang | Nummer 16 | 16. August 2010

Bloß nicht die Kirche im Dorf lassen. Dorferneuerung und ihre Folgen

von Angela Puck

In meiner Kindheit war die Straße, die an unserem Haus vorbei in die Wiesen und Felder führte, ein Kiesweg, den bei Sommerhitze mit Wasser gegen den aufwirbelnden Staub zu besprengen Aufgabe der Anwohner war. Die ließen sich damals in den sechziger Jahren noch an einer Hand abzählen. Das letzte Haus am Ende der Straße, bevor das Ackerland anfing, gehörte einer älteren Frau, die Eis aus der Tiefkühltruhe verkaufte. Eine Mischung am Stiel für 30 Pfennige konnte ich mir für ein Taschengeld leisten. Die Eismarke existiert heute nicht mehr, die Frau ist gestorben, und aus der Handvoll Häuser, die damals die Straße säumten, ist eine stattliche Wohnsiedlung geworden, deren Neubaukomfort sich sicherlich nicht mit den Bedingungen jenes Hauses vergleichen lässt, das um 1910 meine Urgroßeltern erbauten.

Irgendwann fiel der Kiesweg dem Asphalt zu Opfer, der vor einigen Jahren einer Grundsanierung unter dem Verdikt der sogenannten „Dorferneuerung“ wich. Sie wurde zuerst an der Hauptstraße unseres Dorfes begonnen. Hier konnte man in meiner Kindheit beim Bäcker, beim Metzger, einem Gemischtwaren- und einem Zeitschriftenhändler einkaufen.

Mit den Jahren hat sich die Zahl der Geschäfte am Ort etwa verdoppelt, und in eine provisorische Lagerhalle zog ein Supermarkt ein, der das Todesurteil für den Tante Emma-Laden bedeutete. Immerhin konnte diesen Markt meine Mutter, als sie bereits an zwei Stöcken statt an einem ging, noch ohne fremde Hilfe erreichen. Doch hatte sie das Pech, nicht nur Erbe des Hauses meiner Urgroßeltern geworden zu sein, sondern, da unser Dorf einst eine fürstliche Sommerresidenz beherbergte, ihren Lebensabend an einem kulturhistorisch bedeutenden Ort zu verbringen, der noch dazu durch seine bereits früh angelegten Schulen für Agrikultur eine bildungspolitische wichtige Rolle im ganzen Landkreis spielte.

Schon 2005 hatte eine regionale Forschungsgruppe bemängelt, dass die Nahversorgung unseres Dorfes, das heute mit seinen acht umliegenden Ortsteilen circa 2200 Einwohner zählt, vor allem für Senioren gefährdet sei und daher Geschäfte am Ort zu erhalten wären. Auch die fehlende Altenbetreuung wurde beanstandet. Schaffung von Gewerbeflächen und Arbeitsplätzen vor Ort, Verbesserung der Infrastruktur und der Vernetzung der Bürger untereinander sowie Anreize hinsichtlich Kultur und Freizeit für jüngere Leute standen ebenfalls als Hauptpunkte auf der Agenda – dies zu einem Zeitpunkt, als die ländlichen Regionen mit Bevölkerungsschwund und einer zunehmende Überalterung konfrontiert wurden: Abzug der Jungen, der 18- bis 25-Jährigen, in die Stadt, wo sich Wirtschaft und Freizeitangebot konzentrieren, Zurückbleiben der Alten auf dem Land. Somit schrieb sich unsere Gemeinde, deren Anteil von Senioren über 65 Jahre 2008 bei 17 Prozent lag, auf die Fahnen: Die Erneuerung muss aus uns selbst kommen.

Seitdem ist das Dorf meiner Kindheit kaum wieder zu erkennen. In die meisten der frisch herausgeputzten und entsprechend umgestalteten historischen Bauten sind Einrichtungen der Lehranstalten einzogen. Die Hauptstraße und ihre Anbindung an die Bundesstraße wurden unter anderem durch den Einbau eines Kreisverkehrs, die Erneuerung der Straßenbelages, die Anlage von überregionalen Radwegverbindungen, Blumenrabatten, Parkplätzen und akkurat geschnittenen Rasenflächen komplett saniert — für gut zwei Millionen Euro. Von den Zuschüssen in Höhe von 653 000 Euro stammten von der EU knapp die Hälfte, der Rest von Bund und Land. Die folgenden Privatmaßnahmen zur Erneuerung der Straßen entlang der Ortsdurchfahrt mit einem Investitionsvolumen von gut einer halben Million Euro wurden von staatlicher Seite zu etwa einem Fünftel gefördert. Für meine Mutter bedeutete das damals, knapp 9 000 Euro aus eigener Tasche hinzulegen.

Dafür gelange ich nun zu ihrem Haus über eine glänzende Fahrbahndecke, die von einem gesonderten Bürgersteig und markierten Parkplätzen fein säuberlich gesäumt wird. Bezüglich der neuen Straßenbeleuchtung würde so manche Kommune im ehemaligen Ostdeutschland vor Neid erblassen. Wohl gepflegte Blumenbeete schmücken die kleineren Kreuzungen unseres Dorfes, dessen Fassaden an der Hauptstraße in bunten Tönen erstrahlen. Nirgendwo bröckelt der Putz. Bald sind wohl Leinenzwang für Hunde und Plastikbeutel für Hundekot zu befürchten. Für die Überwachung der öffentlichen Ordnung, die etwa falsch parkende Autos stören könnten, sind ehrenamtliche Dorfbürger engagiert worden. Der Straßenerneuerung fielen alte Bäume zu Opfer, deren Wurzelwerk die Sicherheit der neuen Fahrbahnen angeblich behinderten. Für ihre Fällung mussten, sofern sie in Privatbesitz waren, die Eigentümer, darunter auch Senioren wie meine Mutter, allein aufkommen. Diese Aktion brachte sie fast an den Rand eines Nervenzusammenbruches.

Der Lohn für so viel Mühe kam schon bald: So erhielt unser Dorf einen mit 7 000 Euro dotierten Förderpreis des Landes für seniorenfreundliche Kommunalpolitik, da es, so die Begründung der Jury, „passgenaue Strukturen“ entwickelt hätte, „um älteren Bürgerinnen und Bürgern einen möglichst langen Verbleib in ihrer vertrauten häuslichen Umgebung zu ermöglichen“. Alsbald wurde ein Mehrgenerationenhaus mit Seniorenbetreuung in Angriff genommen, das vorläufig im Schulhaus untergebracht ist. Von 2006 bis 2008 hat der Bund 500 solcher Häuser in den Landkreisen und kreisfreien Städten geschaffen, von denen jedes für maximal fünf Jahre jährlich 40 000 Euro erhält. 200 von ihnen werden aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds mitfinanziert.

Im bundesweiten Wettbewerb “Unser Dorf hat Zukunft — Unser Dorf soll schöner werden” für Gemeinden bis zu 3 000 Einwohnern hat unser Ort auf Bezirksebene sogar Gold geholt. Dies gab dem Rausch der Dorferneuerung neue Nahrung, für entsprechende weitere Maßnahmen wurden schon einmal eine gute halbe Million Euro im folgenden Jahreshaushalt eingestellt. Man plant auch, Unternehmen aus Forschung und Entwicklung neu anzusiedeln, die von dem unlängst ausgerufenen Hochschulstandort der Gemeinde profitieren dürfen.

Auf noch zu bebauenden Gewerbeflächen am Ortsrand ist bereits ein Campus für die schon auf 2 600 angewachsenen Schüler und Studenten geplant, ebenso ein Supermarkt, der für die jungen Lernenden bequem über einen extra angelegten Fußweg zu erreichen wäre. Der alte Markt im Ort hat nun seine Tore geschlossen, den neuen würde meine Mutter selbst mit ihrem Rollator zu Fuß nie erreichen. Dass sie von fremder Hilfe abhängig gemacht wird, stört sie in ihrer Selbständigkeit, die sie sich noch bis ins hohe Alter weitgehend erhalten hat. Auch in umliegenden Gemeinden mit zum Teil mittelalterlichem Kern wichen die Tante Emma Läden im Dorf Großmärkten am Ortsrand, die nicht zuletzt den Kommunen eine höhere Gewerbesteuer bringen. Weitab von der Kirche stören sie auch nicht das Bild der heilen heimeligen Welt, das heißt der historischen Altstadt, wie sie von den gehfähigen automobilisierten Touristen, die wiederum Geld in die Kassen spülen, so geschätzt wird.

Derzeit ist unsere Gemeinde auf der Suche nach einem Standort für das neue Mehrgenerationenhaus mit integrierten Wohneinheiten. Das freut all diejenigen Unternehmer, die schon im Zuge der Straßenerneuerung rote Backen bekamen. Man will es dort entstehen lassen, wo einmal das Eis meiner Kindheit 30 Pfennige kostete. Vielleicht muss meine Mutter doch vom Land in die Stadt ziehen.