13. Jahrgang | Nummer 1 | 18. Januar 2010

Der Bürger als Aktionär

von André Brie

Peter Slotderdijk:„Das bürgerliche Manifest“, kündigte der „Cicero“ auf seiner November-Titelseite an. Sloterdijks darin formulierte Kritik von Kultur und politischer Sprache in der aktuellen Gesellschaft ist angebracht. Der „Cicero“-Aufmacher ist dafür ebenso ein Beweis wie der Beitrag selbst. In keiner Weise wird klar, warum dieser Aufsatz ein „Manifest“ sein könnte, schon gar nicht „das“ Manifest ist, auch nicht, worin sein „bürgerlicher“ Charakter bestehen soll. Es wäre ohnehin an der Zeit, sich mit den Behauptungen auseinanderzusetzen, wir hätten bürgerliche Parteien und eine bürgerliche Regierung. Das Bürgertum ist den modernen kapitalistischen Gesellschaften längst abhanden gekommen. Sein emanzipatorischer Anspruch aus dem 18. und 19. Jahrhundert ist teilweise im Staatsbürger aufgegangen, sein kultureller Anspruch hat sich in der Vermarktung von Kultur und Kunst aufgelöst, sein Anspruch auf Eigentum und Macht ist von der kleinen und nicht selten anonymen, aber sehr gut organisierten Gruppe von Bank-, Fonds und Konzern-Managern, Wirtschafts- und Politik-Technokraten und Machtbürokraten okkupiert worden, sein politischer Freiheitsanspruch (das beklagt Sloterdijk zu Recht) wird weitgehend widerstandslos der Sicherheits- und Überwachungstendenz des Staates und des imperialen „Krieges gegen den Terrorismus“ geopfert.

Doch lassen wir die philosophischen Ungereimtheiten einem der „wichtigsten Philosophen“ durchgehen, den Superlativismus seiner Sprache und des „Magazins für politische Kultur“ allerdings nicht. Daß der Superlativismus Sloterdikjs bedenkenswerter Kultur- und Sprachkritik widerspricht, stattdessen dem Stil der Boulevardkultur entspricht, sei nur am Rande angemerkt. Wichtiger ist es, daß er nur eines der Elemente herrschender Ideologie ist, die die wahren Verhältnisse, die zentralen Widersprüche und sozialen und politischen Konfliktfelder in der heutigen Gesellschaft, bewußt entstellt und vernebelt.

Man sollte Slotderdijk beim Wort nehmen: „Wir haben uns – unter dem Deckmantel der Redefreiheit und der unbehinderten Meinungsäußerung – in einem System der Unterwürfigkeit, besser gesagt der organisierten sprachlichen und gedanklichen Feigheit eingerichtet, das praktisch das ganze soziale Feld von oben bis unten paralysiert.“ Dem ließe sich zustimmen, nutzte es Sloterdijk nicht zur wohlfeilen Verteidigung der in ihrer Pauschalität eben doch rassistischen Urteile Thilo Sarrazins (wo bleibt da übrigens Solterdijks eigener Maßstab, „daß Einseitigkeit in politischer Hinsicht die Höchstform von Unverantwortlichkeit darstellt“?), vor allem aber, wenn er seinem eigenen Anspruch auch gerecht würde. Doch das ist nicht der Fall. Im Gegenteil. Mit seiner Kritik herrschender politischer Kultur mag er vielleicht auch sich selbst als einsamen Mahner vor der sprachlichen und kulturellen Verschlammung darstellen und seinen Marktwert betonen wollen, aber letztlich ist sie nur die praktische Fortsetzung der kritisierten Realität mit den gleichen Mitteln und gleichen politischen Absichten. Für Solterdijk ist es der „Zeitgeist“, der nach der Finanz- und Wirtschaftskrise die notwendige „radikale Erneuerung“ verhindert; kein Wort von den Großbanken, Fondsgesellschaften, internationalen Konzernen, Wirtschaftsverbänden, die erklärtermaßen jeder substanziellen Veränderung Widerstand leisten, und den Regierungen, die ihnen nur allzu gern folgen.

Kern des slolterdijkschen Plädoyers ist jedoch der „Aufbruch der Leistungsträger“, ihre „Zentralstellung“ in Politik und Gesellschaft durch einen „neuen Gesellschaftsvertrag“, die Überwindung des „Systems der Leistungsträgerverleumdung“, eine Mobilisierung, „in deren Verlauf sich die Gruppe der steueraktiven Bürger ihrer Bedeutung und Verantwortung für den Gang der Dinge in einem bisher unbekannten Maß bewußt wird.“ Und in dem die FDP dafür sorgt, „daß der Leistungsträgerkern der deutschen Population sich in Zukunft nicht nur fiskalisch stark mitgenommen fühlt, sondern sich auch politisch, sozial und kulturell gewürdigt weiß.“ Das klingt nicht nur nicht harmlos. Der von Sloterdijk erwähnte große sozialliberale Denker Ralf Dahrendorf hatte in seinem großartigen Buch „der moderne soziale Konflikt“ bereits Mitte der neunziger Jahre geschrieben, daß es am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts (wie im 19. Jahrhundert) wieder um die existenziellen Fragen von Macht und Eigentum gehe. Während Dahrendorf jedoch auch den sozialen und weltweiten Ausgleich und gesellschaftlichen und demokratischen Zusammenhalt meinte, bläst Solterdijk zum Generalangriff „an der neuen politischen Front“, an der „zwei finanzpolitische Großgruppen aufeinander (stoßen): hier die Transfermassengeber, die aufgrund von unumgehbaren Steuerpflichten die Kassen füllen, dort die Transfermassennehmer, die aufgrund von sozialpolitisch festgelegten Rechtsansprüchen die Kassen leeren“.

Neu oder gar originär ist daran ganz und gar nichts. Sloterdijk widersteht nicht der herrschenden politischen Meinung und Kultur; er propagiert sie auf vulgärste Weise. Seine Arg umente kommen aus dem tausendfach abgenutzten Arsenal der marktradikalen Ökonomie und Boulevardpresse, letztlich sogar aus dem vor- und frühbürgerlichen politischen Denken. Als „Leistungsträger“ definiert er die „25 Millionen Steueraktiven“, „aus deren Einkommen sowie aus den davon abzuführenden Abgaben praktisch alles stammt, was die 82-Millionen-Population des Landes am Leben hält.“ Die gewaltigen indirekten Steuern, insbesondere die Mehrwertsteuer, die von allen 82 Millionen, auch den sozial Ausgegrenzten (aber auch den Touristen) gezahlt wird, werden von ihm vollständig ignoriert. So kann dann auch „gerechnet“ werden: „Allein das obere Zwanzigstel der Leistungsträger bestreitet gut 40 Prozent des Gesamtaufkommens an Einkommenssteuern…“ Sein Argument, die Steuerzahler würden ein halbes Jahr für den Staat und die „Nehmer“ arbeiten, findet sich mit gleicher Intellektualität jährlich im Sommer in der BILD-Zeitung, so am 13. Juli diesen Jahres in deren Leitartikel: „Der Staat nimmt uns von dem, was wir verdienen, fast 33 Prozent in Form von Steuern und knapp 21 Prozent als Sozialabgaben weg … Kein Zweifel: Es ist etwas faul im Abkassierer-Staat.“ Kein Wort hier wie da von der Tatsache, daß davon nicht nur sozialer Transfer, sondern Schulen, Universitäten, Forschung, Kinder- und Gesundheitseinrichtungen, Infrastruktur, Polizei, aber auch der Afghanistankrieg, das politisch organisierte, Mißmanagement der Banker und Fondsmanager und die horrenden Staatsschulden (bei Privatbanken, Fonds, Vermögenden) finanziert werden.

Besonders skandalös und bezeichnend ist Sloterdijks Begriff der Leistungsträger, der Millionen und Abermillionen Menschen im staatlich verordneten Niedriglohnsektor, in prekären Beschäftigungsverhältnissen und Teilzeitarbeit, Kindererziehung, Altenpflege und ehrenamtliches Engagement und die unersetzbare Rolle älterer Menschen für gesellschaftlichen und familiären Zusammenhalt, Kultur, menschlichen und sozialen Reichtum aus den existenziellen Leistungen in der für die Gesellschaft ausschließt, gierigen Bankern anhand ihrer Steuerzahlungen jedoch eine herausgehobene Wertschätzung zollt. Natürlich fordert Sloterdijk nicht die Rückkehr zum preußischen Dreiklassenwahlrecht oder ähnlichen an Einkommen oder Steuerzahlungen orientierten Wahlrechten, doch letzten Endes lebt bei ihm nicht mehr als der Begriff des „Bürgers als Aktionär“ von Justus Möser aus dem späten 18. Jahrhundert wieder auf. Wenn Sloterdijk im Wahlergebnis vom 27. September sieht, daß sich nach langer Verwischung der politischen Unterschieden mit FDP und Linker zum ersten Mal in der neueren deutschen Demokratie wieder klar zwei Gruppen gegenüber stehen, „die man so noch nicht miteinander konfrontiert sah“, dann sollte diese Herausforderung von der Linken und allen anderen sozialkritischen Bewegungen auch angenommen werden. Die Alternative, sieht Solterdijk, liegt in der Vergangenheit und gesellschaftsgefährdender politischer Gegenwart.