Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 28. September 2009, Heft 20

Stimme abgeben und stumm zurückbleiben

von Günther Drommer

Ich bin enttäuscht vom ganzen rot-rosa-grün-gelb-schwarzen Nummernprogramm mit seinen gelegentlichen Aufheiterungen hier und da. Soll ich also überhaupt wählen gehen? Ich schwanke hin und her zwischen Trotz, Sarkasmus und Verzweiflung. Dabei ist die Wahrheit eigentlich einfach, wenn man weiß, daß zu jedem eindeutigen Ja immer auch ein kleines – manchmal auch ein größeres – Aber gehört, mal so herum, mal anders herum.
Zum Beispiel: Man erlebt die tägliche Gleichstellung unserer vergangenen Existenz im Osten mit der unserer Väter und Großväter und ist dem ununterbrochenen entehrenden Gerede von der zweiten Diktatur ausgesetzt. Dieser Vergleich hat es darauf abgesehen, weiterhin sehr vielen Menschen im Osten die Würde zu nehmen. Das geschieht wegen des historisch beispiellosen wirtschaftlichen Raubzugs von West nach Ost in den vergangenen zwanzig Jahren und der damit verbundenen, anhaltenden Geringschätzung unseres individuellen ökonomischen und ethischen Wertes: Folgen jener gewaltigen Krise der kapitalistischen Ordnung, die wir als das Volk zu tragen haben und deren Folgen noch keineswegs abzusehen sind.
Man stelle sich nur einmal vor, die Nazi-Diktatur wäre im Mai 1945 in Berlin mit einer sogenannten friedlichen Revolution (nicht unsere Worte) zu Ende gegangen, mit der öffentlichen Forderung etwa, AdolfHitler, wenn schon nicht aufs verdiente Schafott, so doch »nach Wandlitz ins Altersheim« zu schicken. Man wird wütend und erkennt die primitive Absicht des schiefen propagandistischen Vergleichs aus der Feder der im Glashaus sitzenden Steineschmeißer, deren politischer Horizont in dieser Richtung durch das Knabesche U-Boot in Hohenschönhausen begrenzt ist. Ideologie wie gehabt.
Da hat man noch gar keinen Blick getan in die Welt. Man bedenke zum Beispiel die abenteuerlichen Vorgänge um zwei unbekümmert mitten durchs Talibanland fahrende Bomben in Form von gefüllten Tanklastern mit Fahrer und Ablösung. In Kundus, im gut gesicherten Lager, stehen jedoch die gepanzerten Fahrzeuge, deren Aufgabe es ist, gefährdete Benzintransporte und anderes zu sichern. Haben Fahrer und begleitende Soldaten, als sie scheinbar in aller Ruhe aufs tägliche Benzin warteten, vielleicht gerade Karten gespielt? Und dabei alle militärischen Erfahrungen im Partisanenkrieg in den Weiten Rußlands, in Jugoslawien und Frankreich und die einst dort verdeckt geführten, schmerzhaften Angriffe auf Bahnlinien und Versorgungskonvois vergessen? Die Todesfolgen dieser Vergeßlichkeit sind leider nicht zu knapp bemessen.
Ich weiß nicht, wie der sogenannte zivilisierte Westen aus diesem Debakel herauskommen will. Vielleicht müssen gewichtige und unabhängige islamische Regierungen dazu aufgefordert werden, wenigstens zu versuchen, die ebenfalls islamischen Taliban ernstzunehmen und ernsthaft mit ihnen zu verhandeln, vor allem auch über die Gleichberechtigung der Frauen dort. Wir spätkapitalistischen Demokraten sollten uns jedoch auf gute Ratschläge beschränken.
Das ist naiv gedacht, ich weiß es schon. Und dann immer noch dieser alte, nervende, leider wahre Satz: Die Taliban waren einst das Werk der USA in ihrem verdeckten afghanischen Kampf gegen die Sowjetunion selig. Deren Hunderttausend-Mann-Armee hatte im Februar 1989 das Land verlassen, und viele Menschen auf beiden Seiten, die unweigerlich noch gefallen wären, blieben am Leben.
Wer jedenfalls nicht die Weltpolizei spielt, wird unter Umständen vom größeren Rest der Welt dann auch nicht mehr als solche behandelt.
Was nun die wieder einmal bevorstehenden demokratischen Wahlen angeht, helfe ich mir so: Ich gehe wählen, weil die verrottete Demokratie samt ihrer sehr besonderen Spielart des vergangenen real existierenden Sozialismus immer noch um sehr, sehr vieles besser ist als der alternative Faschismus.
Käthe Reichel erinnert daran, daß schon im alten Griechenland auf die ersten sechzig Jahre Demokratie zwangsläufig die Tyrannis des Perikles folgte. Und der das voraussagte, Sokrates, den zwang seine attische Demokratie, ohne lange herumzufackeln, den Schierlingsbecher auszutrinken.
Von Brüderlichkeit als dem dritten Wort im Dreiklang der französischen Revolution und im Schillersehen Sinne (alle Menschen werden Brüder, wenn der starke Arm der Freude, jener Tochter aus Elysium, es will) und auch vom zweiten, von Gleichheit im Verständnis von gleichen Lebenschancen für alle, ist in all dem uns umgebenden Freiheitsgedröhn längst nichts mehr zu hören.
Der wirkliche Kommunismus ist auch ein anderer Begriff für »Ewiger Friede« und als Begriff jederzeit zur Definition freigegeben. (Wenn dieses Wort also zum Beispiel in Nordkorea oder wegen Nordkorea irgendjemanden stört, kann er selbstverständlich ein anderes dafür vorschlagen). Diese erträumte Ordnung der menschlichen Gesellschaft (auf »Ordnung« muß allerdings Wert gelegt werden), hat es bisher auf der Welt nur für sehr kurze Augenblicke gegeben.
Zum Beispiel, als der private Bäcker in der Baumschulenstraße am Morgen nach der Nacht, in der an der Sonnenallee die Mauer aufging, den vom kurzen Spaziergang nach Neukölln Zurückkommenden, seine inzwischen gebackenen Brötchen schenkte, aus freien Stücken und reiner Freude. Freude worauf, würde ich ihn heute allerdings gern fragen, falls er seinen Laden noch besitzt.
Die eigentliche Art des Zusammenlebens der Menschengesellschaft auf Erden scheint nicht vor der Tür zu warten. Und nicht wenige Guterzogene, Hochkultivierte, Zivilisierte sagen, daß das auch nie geschehen wird: das »Raubtier im Menschen«! In diesen »Bedenkenträgern« selbst übrigens – was für ein doofes Wort – ist, ihrer eigenen Selbsteinschätzung folgend, natürlich keine Spur mehr vom Tier.
Weil also der »richtige« Kommunismus weder zu machen ist, noch über uns kommt, vorläufig jedenfalls nicht, bleibt uns zur Zeit nichts anderes übrig, als mitzuhelfen, unsere weitgehend verrottete Demokratie wenigstens vor dem Faschismus zu schützen, so gut es geht. Denn der steht Gewehr bei Fuß mit fast zehn Prozent europaweit bei den vergangenen Wahlen zum Europa-Zirkus.
Also werde ich wählen gehen und mache meinen kleinen Ton geltend. Bei denen, die ich für das kleinste Übel unter den Übeln halte.