Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 14. September 2009, Heft 19

Der Fingernagel

von Dorit Lehrack, z. Z. Peking

Ich traf ihn das erste Mal vor gut zehn Jahren. Damals arbeitete er als »Fotomodell« in Mutian Yu, einem restaurierten Teilstück der Großen Mauer unweit von Peking, einem beliebten Ausflugsziel der Hauptstädter und ihrer Touristen. Im Berufsleben gab er einen Mongolen des 15. Jahrhunderts, phantasievoll gekleidet und mit einem sehr gefährlich aussehenden Schwert gerüstet. Schwertschwingend unter lautem Kampfgeheul stürzte er sich auf die Touristen, die auf das Spektakel entweder kopfschüttelnd reagierten oder sich aber in ebenso farbige Roben als Mongolen oder auch als »Kaiser von China« einkleiden ließen, um dann für das Foto posierten, das dem kleinen Mann das Leben sicherte.
Der kleine Mann, der ohne seinen Mongolenanzug immer noch recht mongolisch aussah, stammt aus einem Dorf nahe der Großen Mauer, das er »Mongolia « nennt. Bei guter Sicht kann man es wie ein Schwalbennest am Gebirge kleben sehen. Ob dort wirklich Nachfahren des Tschingis Khan leben, konnte ich auch in zehn Jahren Mauerbesuchen nicht wirklich ergründen. Die Legende hält sich jedoch tapfer. Jeden Morgen trabte der kleine Mann den zirka zehn Kilometer weiten Weg über Stock und Stein zu seiner Arbeit auf dem vielleicht 600 Meter hoch liegenden Mauerabschnitt – gemeinsam mit seiner Frau, die den Abschnitt pieksauber hielt. Stolz war er auf seine Arbeit, die ihm ein bescheidenes, aber auskömmliches Leben sicherte und ihm erlaubte, die beiden Töchter auf die Mittelschule zu schicken. Beim ersten Treffen gab ich ihm meine Visitenkarte – auch nach zehn Jahren zückt er sie, sowie weitere dazugekommene von Freunden aus aller Herren Länder, wann immer er mich mit einem frohen »Peng you«, das heißt »Freund«, begrüßt.
Irgendwann entdeckte ich ihn, diesen kleinen Finger mit einem – ungelogen – vielleicht fünf Zentimeter langen Nagel, der Nagelrand schwarz wie Pech, aber vollkommen harmonisch ins Halbrund gefeilt. Es war meine erste Begegnung mit asiatischen langen Fingernägeln, und ich war fasziniert. Dieses Teil wachsen zu lassen und vor Wegbruch zu behüten, stellte ich mir als eine wahrhafte Lebensaufgabe vor. Nach einiger Überwindung, und weil wir bald wirklich Freunde geworden waren, die sich jedes Mal auf einen Schwatz trafen, fragte ich ihn nach der Bedeutung. »Aber Peng You«, antwortete er leicht pikiert, »Du weißt doch, daß ich nicht arbeiten muß …« Ich wußte das nicht. Für mich sah die Beschaffung des Lebensunterhaltes dieser kleinen Familie irgendwie nach Arbeit aus, und zwar nach einer recht beschwerlichen. Das gab ich ihm auch sehr vorsichtig, um ihm nicht den Verlust seines Gesichts zu bescheren, zu bedenken. »Na ja«, gab er zu, »ein bißchen arbeiten tu ich schon, aber doch nicht so richtig körperlich wie der Reisfarmer oder Bauarbeiter. Denen wäre der Nagel im Wege, mir bei meiner Arbeit nicht. Mir geht es doch viel besser als denen, fast so wie den Taxifahrern … Die haben doch alle den langen Nagel.« Der ordnete ihn in die gehobene Hierarchie der Erwerbstätigen ohne körperliche Anstrengungen ein.
Kurze Zeit später war es aus mit dem Fotobusiness. Die das Mauerstück verwaltende Tourismusbehörde befand, daß die Mongolenkrieger zu einer Belästigung der Touristen würden und verbot kurzerhand das Geschäft. Mich interessierte nicht zuletzt deshalb brennend, was aus dem Freund mit dem langen Nagel geworden war.
Ich traf ihn dieses Mal in »Zivil«. Im sauberen, wenn auch schäbigen dunklen Anzug saß er auf einem kleinen Hocker in der Nähe des Mutianyu-Passes, neben ihm, auf den Reisigbesen gestützt, seine Frau, und bot lauthals Getränke an. Es gab Wasser, Cola und eiskaltes Bier, alles vom meilenweit entfernt liegenden Dorf in einem Kühlbehälter morgens auf die Mauer – und abends, mindestens noch halbvoll – wieder zurück ins Dorf geschleppt. Zehn Yuan – gut ein Euro – kostete die Flasche. Unten, an der Talstation des Sesselliftes, bekam man gleiches zum halben Preis. Und da wurde auch gekauft …
»Wie ist das Geschäft, mein Freund?«, fragte ich ihn. Schulternzuckend zeigte er nach links, dann nach rechts: In geringem Abstand saßen weitere ehemalige Fotomodelle des kleinen Dörfchens mit dem selben Angebot – und niemand kaufte.
Drei Flaschen Wasser und ein Bier waren die Ausbeute eines ganzen Arbeitstages. Vier Euro also, von denen der Einkaufspreis abzuziehen war. »Das Fotogeschäft war besser«, sagte er, »aber es reicht auch so zum Leben. Meine Frau träumt davon, ein »Bed and Breakfast« zu eröffnen, unten in Mongolia, da könnte ich dann auch wieder Mongole sein …«, meinte er mit verschmitzten Lächeln – und zeigte mit seinem langen Fingernagel stolz in die Höhe.