Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 14. September 2009, Heft 19

Boykott gegen Israel?

von Uri Avnery, Tel Aviv

Wie sehr hat der Boykott Südafrikas tatsächlich dazu beigetragen, das rassistische Regime zu stürzen? Letztens sprach ich mit Desmond Tutu über diese Frage. Dieser Tage wurde das Thema Boykott wieder aktuell, nachdem Neve Gordon in der Los Angeles Times einen Artikel veröffentlichte, in dem er zu einem weltweiten Boykott Israels aufruft. Ich kenne und schätze Neve Gordon seit vielen Jahren. Bevor er Dozent an der Ben-Gurion-Universität in Beersheba wurde, organisierte er viele Demonstrationen gegen die Trennungsmauer im Jerusalemer Raum. Aber diesmal bin ich nicht seiner Meinung – nicht bei dem Vergleich mit Südafrika und nicht bei der Wirksamkeit eines Boykottes gegen Israel.
»Der Boykott war ungeheuer wichtig,« sagte mir Tutu, »viel wichtiger als der bewaffnete Kampf. Seine Wirkung war nicht nur wirtschaftlicher Art, sondern auch moralisch. Die Südafrikaner sind zum Beispiel ganz wild auf Sport. Der Boykott, der ihre Teams daran hinderte, im Ausland an Sportwettkämpfen teilzunehmen, hat sie sehr getroffen. Aber die Hauptsache war, er gab uns das Gefühl, daß wir nicht alleine sind, daß die ganze Welt mit uns ist. Das gab uns die Kraft, weiterzumachen.« Um die Bedeutung des Boykottes zu unterstreichen, erzählte er mir noch folgende Geschichte: 1989 wurde der moderate Frederic Willem de Klerk zum Präsidenten von Südafrika gewählt. Nachdem er sein Amt angetreten hatte, erklärte er, eine multi-ethnische Regierung einzusetzen. »Ich rief ihn an und gratulierte ihm. Das erste, was er sagte, war: Werden Sie nun den Boykott abbrechen lassen?«
Tutus Antwort verdeutlicht aber auch den großen Unterschied zwischen der südafrikanischen Realität damals und der unsrigen. Mehr als neunzig Prozent der Südafrikaner – die Farbigen – unterstützten den Boykott, in Israel ist die Situation genau umgekehrt: 99,9 Prozent sind gegen einen Boykott Israels, sie würden nicht das Gefühl haben: »Die ganze Welt ist mit uns.« Sondern eher: »Die ganze Welt ist gegen uns.«
Einer der fundamentalen Unterschiede zwischen den Konflikten in Südafrika und in Israel ist der Holocaust. Jahrhundertelange Pogrome haben sich in das Bewußtsein der Juden eingeprägt – und damit die Überzeugung, daß die ganze Welt darauf aus sei, sie zu vernichten. Dieser Glaube wurde hundertfältig durch den Holocaust verstärkt. Jeder Israeli lernt schon in der Schule, daß »die ganze Welt schwieg«, als sechs Millionen ermordet wurden. Dieser Glaube steckt in den letzten Winkeln der jüdischen Seele. Auch wo dieser Glaube nur schlummert, ist er schnell hellwach. Es mag wohl sein, daß die jüdische Überzeugung, die ganze Welt sei gegen die Juden, irrational ist. Aber im Leben von Völkern wie auch im Leben von Individuen ist es irrational, das Irrationale zu ignorieren. Der Aufiuf zu einem Boykott wird viele Menschen rund um die Welt an den Nazi-Slogan »Kauft nicht beim Juden!« erinnern.
Das betrifft nicht jede Art von Boykott. Vor etwa elf Jahren rief die Gush-Shalom-Bewegung, in der ich aktiv bin, zu einem Boykott der Produkte aus den Siedlungen auf. Die Absicht war es, die Siedler von der israelischen Öffentlichkeit zu trennen und aufzuzeigen, daß es zwei Arten von Israelis gibt. Der Boykott war auch dafür gedacht, die Israelis zu stärken, die gegen die Besatzung sind, ohne antiisraelisch oder antisemitisch zu werden. Seitdem hat die EU hart daran gearbeitet, die Tore der EU für Produkte der Siedler zu schließen – und kaum einer hat sie des Antisemitismus beschuldigt.
Die Annahme, der israelisch-palästinensische Konflikt ähnele der südafrikanischen Auseinandersetzung, führt zur falschen Strategie. Die israelische Besatzung und das südafrikanische Apartheidsystem haben zwar gewisse ähnliche Charakteristika, auf der Westbank gibt es Straßen »nur für Israelis«. Aber die israelische Politik gründet sich nicht auf Rassentheorien, sondern auf einen nationalen Konflikt. Ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel: Einem weißen Mann und einer schwarzen Frau (oder auch umgekehrt) war es in Südafrika nicht erlaubt zu heiraten, und sexuelle Beziehungen zwischen ihnen galt als Verbrechen. In Israel gibt es solch ein Verbot nicht. Andererseits kann ein arabisch- israelischer Bürger, der eine arabische Frau aus den besetzten Gebieten heiratet (oder auch umgekehrt) seinen/ihren Ehepartner nicht nach Israel bringen. Der Grund ist, in Israel die jüdische Mehrheit zu bewahren. Beide Fälle sind verwerflich, aber grundsätzlich verschieden.
In Südafrika gab es eine Übereinstimmung bei der Einheit des Landes. Der Kampf ging um die Herrschaft. Sowohl die Weißen als auch die Schwarzen betrachteten sich als Südafrikaner und waren entschlossen, das Land zusammenzuhalten. Die Weißen wollten keine Teilung und konnten sie auch nicht wollen, weil ihre Wirtschaft auf die Arbeit der Schwarzen gründete. Hierzulande haben die israelischen Juden und die palästinensischen Araber nichts gemeinsam – kein nationales Gefühl, keine gemeinsame Religion, keine gemeinsame Kultur und keine gemeinsame Sprache. Der weitaus größte Teil der Israelis wünscht einen jüdischen (oder hebräischen) Staat, der weitaus größte Teil der Palästinenser wünscht einen palästinensischen (oder islamischen) Staat. Israel ist nicht von palästinensischen Arbeitskräften abhängig – im Gegenteil. Aus diesen Gründen zeichnet sich ein weltweiter Konsens ab, daß die Lösung in der Schaffung eines palästinensischen Staates neben Israel bestehen kann.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von der Redaktion gekürzt