Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 28. September 2009, Heft 20

Bemerkungen

Avantgarde

Avantgardisten sind Leute, die ihre Irrtümer hundert Jahre früher als andere begehen.

Liv Kortina

Memento Mori

Was gibt es noch zu sagen? Genieße, solange es geht, denn es kommt noch anders. Wie? Das weiß keiner. Und niemand wird es wissen, bevor er nicht seine zukünftige Gegenwart mit seiner Vergangenheit abgleicht und feststellt: So war, so ist es nicht mehr. Die Symptome einer verfallenden Welt lassen sich zumindest erkennen.
Am Rande des Wahlkampfes einer geschichtsträchtigen Partei: der Glaube an eine alte Welt im neuen Gewand. »Wenn es wieder anders kommt, dann schaffen wir das Geld ab!« »War schon mal, kam dann doch wieder anders.« »Aha.« Bedenke – Geschichte stirbt, vor allem die eigene.
Wohnungssuche in Berlin-Friedrichshain, ein Telefonat: »Wie heißt die Immobilienfirma?« » …, aber die haben gerade Vermietungsstop!«
»Also, alte Mieter raus, schlecht bezahlte Handwerker und existenzbedrohte Architekten rein, wieder raus und gutbetuchtes Neubürgertum rein – für das dreifache?« »Genauso!« Memento Mori – Freiraum stirbt. Arbeiten im Olymp, einen ganzen Abend, dann drei Wochen an der Luft, keine Unterlagen, Absage, wenigstens die Fahrkarte sparen, Zusage:
»Quatsch Lohnsteuerkarte kann nachgereicht werden – ich rechne morgen mit dir!« Rechnen ist schön – morgen. Freundliche Einstimmung:
»Wir verkaufen heute das Bier für fünf Euro«, alle Finger von den Händen gestreckt und ein Leuchten in den Augen. Am Ende eine Quittung, ohne Summe, aber mit dem Namen – schön leserlich – Ausfüllen und Unterschreiben. Nachgereicht wird nichts, nachgefragt schon gar nicht.
Carpe diem – Arbeit stirbt.
Einer kann Böses tun, wenn Menschen ihre Muskeln spielen lassen, deshalb: Immer Zugangs berechtigt sein – ein polizeiliches Führungszeugnis reicht da nicht aus. Im Angesicht einer auf einem Teleskoparm montierten Kamera ein Formular ausfüllen, die Daten gehen durch alle Register, während rauchend gewartet wird, ob da nicht doch was war oder auf einmal etwas ist, das man so nicht vermutet hat. Am Ende kommt ein Bild samt vielen kleinen Nummern auf ein
Papier und wird versiegelt – aufatmen. Memento Mori – Sicherheit stirbt zu Gunsten der Sicherheit.
Ein Einkaufstempel mit Tiefkühltruhen, alle Etiketten kommen so vertraut daher – abgekupfert, zum Wohl fühlen, das haben, was andere haben – imaginierter Wohlstand:
»Pizza, Spaghetti, Döner zum Selbermachen, Gyros, Frutti del Mare?« »Lasagne ist billiger, stopft auch besser!« »Hast recht.« Mit dem Einkommen stirbt auch die Gesundheit – Gedenke des Todes, er kraucht näher. Ein zufriedener Abend, mit guter Unterhaltung, entspannt, fast kostenlos: »Mario Barth, Silent Bob, Scrubs, Die Witzigsten Werbe spots, Ooops die Pannenshow oder doch lieber die Tagesthemen?« »Naja, die Wahl ist doch klar.« »Ooopsie?« »Genau!« Interesse stirbt mit permanenter Ablenkung von der Realität – denke und natürlich gedenke gar nichts mehr, Verschwörungstheorien reichen aus, um die Welt zu erklären.
Ein Spruch an einer Wand an der Elbe: »Die Flußaue ist die natürliche Umgebung der Kopfweide.«
Schöner Satz, wahrer Satz. Die entsprechende Kopfweide steht in der Flußaue, die Flußaue allerdings wurde betoniert – das natürliche Grün der Flußaue wurde durch Grau ersetzt, aber die Kopfweide blieb, samt zynischem Spruch. Die Natur wird zugunsten der Natur zurückgedrängt – Gedenke deiner selbst, die Natur wird überleben.
Das entsprechende Lebensgefühl:
Das Gewohnte stirbt, wird ersetzt, wird zurückgeschraubt, eingestampft, schlicht verbessert. Auf der einen Seite Memento Mori, bald ist alles anders, aber auch Carpe diem, ihr habt ja Zeit. Aber auch Memento Mori: Es kommt noch anders, und Carpe diem: Anders, als wir alle erwarten, genieße noch – verweile doch, ist ausverkauft.
Viel beschworen, drum auch an dieser Stelle: Der Untergang des Abendlandes – er kommt nicht,
wie lange vermutet, aus dem Osten, er kommt von innen – mit einem vielversprechenden Grinsen. Unsere Zukunft wurde und wird weiterhin verfrühstückt.
Carpe diem.

Paul

Fallada, Größe und Tragik

Zunächst ist hier eine große editorische Leistung zu würdigen: Nach mehr als sechzig Jahren harter und geduldiger Arbeit ist ein Tagebuch entziffert und diesjährig bei Aufbau veröffentlicht worden, das Hans Fallada 1944 im Haftkrankenhaus Neustrelitz-Strelitz, einem» Totenhaus«, heimlich und vor allem raffiniert verschlüsselt geschrieben hat. Für eine inhaltliche Referierung des Buches ist hier, in der letzten Blättchen-Ausgabe, leider kein Platz. Aber für zwei denkbare Resultate seines Lesens soll er doch in Anspruch genommen werden. Enttäuschung könnte das eine sein; ein Enttäuschtsein von jemandem, den man über seine so wunderbar menschlichen Werke als Anwalt der »Kleinen Leute« hat lieben gelernt.
Und der sich nun ungeschützt und ungefiltert als jemand preisgibt, dem nahezu keine menschliche Schwäche und Verwerfung fremd ist, der ebenso barmend und rechthaberisch wie larmoyant und ungerecht und naiv und kleinmütig wie politisch kurzsichtig war, daß dies alles zu besagtem Abziehbild von ihm nicht passen will.
Falladas charakterliches Dilemma, im privaten wie im politischen: Nein zu sagen, auf Druck hin, moralisch gefärbten wie politischen, dann aber doch nachzugeben; auch den Nazis, trotz aller Versuche, sich diesen zu entziehen. Sich dafür verachtend, diese Verachtung aber auch auf jene zu delegieren, denen gegenüber er sich wiederum zu erheben versucht – den ins Exil Gegangenen unter seinesgleichen, denen er vorwirft, es sich leicht gemacht zu haben und denen er sich in eine moralische Überlegenheit deriliert, von der er im tiefen Innern weiß, daß es sie nicht gibt.
Möglich, daß manche Freunde ihm nach dem Lesen des Buches die Freundschaft kündigen. Möglich aber auch, daß andere sie mehr denn je verinnerlichen, weil sie die Erfahrung ihrer eigenen – wenn auch in der Regel andersartigen Zerrissenheit hier wiederfinden; ein Stück jenes Menschseins, das weit weg ist vom Heldentum, dafür aber sehr nahe an der wohl verbreitetsten Daseinsform von uns Erdenbürgern.
Zeitlebens hat sich der »Kleine Mann« die Frage »Was nun?« vorgelegt. Antworten darauf hat er in seinen Büchern zumindest teilweise gefunden, für sich selbst hat aber nie. Das Tagebuch aus dem Jahr 1944 gibt in seiner nicht überarbeiteten Fassung darüber fast beklemmende Auskunft. Fallada als Literaten darf man aber allemal weiterhin lieben.

Heinz Jakubowski

Hans Fallada: In meinem fremden Land. Gefängnistagebuch 1944. Herausgegeben von Jenny Williams und Sabine Lange, Aufbau Verlag Berlin 2009, 333 Seiten, 24,95 Euro

Medien-Mosaik

»Kinder, liebe Kinder, das hat mir Spaß gemacht!« Wer kennt nicht diese Liedzeile, unzählige Male vom Kindersopran gehört, der vom Sandmännchen stammen sollte. Paßte diese Stimme zu dem kleinen Männchen mit dem weißen Spitzbart? In mittlerweile fünfzig Jahren konnten wir uns daran gewöhnen.
Unser Sandmännchen gab ab November 1959 die Rahmenhandlung für den Abendgruß des Deutschen Fernsehfunks ab, von der seither rund 500 Varianten entstanden. Das Sandmännchen hat in diesem halben Jahrhundert viel mitgemacht. Als DDR-Bürger erfunden und auch gesellschaftlich aktiv, überlebte es die Einführung des Farbfernsehens, mehrere Senderwechsel inklusive des Wechsels der Staaten. Sandmännchen-Experte Volker Petzold hat zum Jubiläum gleich zwei reich ausgestattete Bücher über den kleinen Kerl, der als eine der wenigen DDR-Errungenschaften gesamtdeutsche Prominenz bekam.
In Das Sandmännchen – Alles über unseren Fernsehstar erzählt Petzold Sandmanns Werdegang und hat so viele Zeitzeugen befragt und Dokumente gelesen, daß er sich verleiten läßt, so zu schreiben, als sei er immer dabei gewesen.
Gern verwendet er das Wort »seinerzeit«, und wenn er von »Ost-Zeiten« berichtet, fragt man sich, ob es auch »West-Zeiten« gibt. Nüchterner formuliert ist sein Großes Ost-WestSandmannehen-Lexikon, in dem er nicht nur von unserem Sandmännchen und seinen Abendgrüßen, sondern auch vom weniger erfolgreichen West-Sandmännchen viel Wissenswertes vermittelt. Und das Fotomaterial ist in beiden Ausgaben umwerfend!

Volker Petzold: Das Sandmännchen. Alles über unseren Fernsehstar, edel EDITION 2009,24,95 Euro, Volker Petzold: Das große Ost-West-Sandmännchen-Lexikon, Verlag für Berlin-Brandenburg 2009, 19,90 Euro

bebe

Der Kleinverleger

Der Kleinverleger ist in der Regel Seiteneinsteiger und war früher entweder Redakteur, Persönlicher Mitarbeiter, Lektor in einem Großverlag (!) oder Beauftragter. Für irgendwas. Er produziert in seinem Kleinverlag nicht mehr als zehn Bücher im Jahr. Von einem, wenn er Glück hat, kann er dann leben. Der Kleinverleger weiß alles, kann alles und macht alles. Vor allen Dingen macht er alles allein: Er entscheidet über das Verlagsprogramm, die Manuskripte, die Titel der Bücher, die Schutzumschläge, die Auflagen und über die Honorare.
Die fallen, er ist ja ein Kleinverleger, niedrig aus.
Der Kleinverleger würde die von ihm herausgegebenen Bücher eigentlich gerne selber schreiben, aber dazu kommt er nicht. (Das erinnert uns an Chefredakteure.) Merkwürdigerweise schreibt er auch die Rezensionen zu den von ihm edierten Büchern nicht eigenhändig. Das täte er liebend gern, aber siehe oben.
Doch der Kleinverleger kann natürlich Rezensionen besorgen. Vom Großverleger unterscheidet er sich – rezensionsmäßig gesehen – dadurch, daß der ein dickes Fell hat und nach der Devise lebt: Lieber schlecht als gar nicht vorkommen. Der Kleinverleger hingegen will immer gelobt
werden. Nicht nur für seine Bücher, nicht nur in Rezensionen. Das macht Begegnungen mit ihm immer etwas stressig.
Der Kleinverleger hat Magengeschwüre. Die verantwortet nur zum geringen Teil das Finanzamt. Der größere geht auf die Kappe sogenannter Vertreter. Das sind Personen, die mit großen schwarzen viereckigen Pilotentaschen voller Bücher bei den Händlern vorsprechen und ihnen Bestellungen aufnötigen wollen. Verfügt der Großverleger in der Regel über einen eigenen, von ihm abhängigen (!)Vertrieb, muß sich der Kleinverleger einer Firma ausliefern, die mehreren Verlagen zu Diensten ist: Bevor das Buch in die Regale kommt, muß es erst vom Verleger in Vertreterköpfe agitiert werden.
Das wird zweimal im Jahr auf »Vertreterkonferenzen« probiert. Wenn Vertreter ein Buch bemäkeln (weil sie zum Beispiel den Autor noch nicht kennen und darum das Ausbleiben von Käufern befürchten), hat es keine Chance, Leser zu erreichen. Jedenfalls nicht so ausreichend, daß es den Lebensstandard des Kleinverlegers angemessen positiv zu beinflussen in der Lage sein könnte. Darum kostet so eine Vertreterkonferenz den Kleinverleger viele Nerven. Hinzu kommen anderthalb Kilo Kaffee sowie Berge belegter Brötchen. Hinterher merkt er wieder seine Magengeschwüre.
Da muß sich ernsthaft gefragt werden: Warum wird jemand freiwillig Kleinverleger?

Paul Oswald (d. i. Wolfgang Sabath), aus: Das Blättchen, 21. Dezember 1997 (Probeheft)

Das Trauerspiel von Afghanistan

von Theodor Fontane

Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,
Ein Reiter vor Dschellalabad hält,
»Wer da!« – »Ein britischer Reitersmann,
Bringe Botschaft aus Afghanistan.«

Afghanistan! er sprach es so matt;
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Commandant,
Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.

Sie führen ins steinerne Wachthaus ihn,
Sie setzen ihn nieder an den Kamin,
Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
Er atmet hoch auf und dankt und spricht:

»Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Cabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verraten sind.

»Zersprengt ist unser ganzes Heer,
Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.«

Sir Robert stieg auf den Festungswall,
Offiziere, Soldaten folgten ihm all’,
Sir Robert sprach: »Der Schnee fällt dicht,
Die uns suchen, sie können uns finden nicht.«

»Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
So laßt sie’s hören, daß wir da,
Stimmt an ein Lied von Heimat und Haus,
Trompeter, blast in die Nacht hinaus!«

Da huben sie an und sie wurden’s nicht müd’,
Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied,
Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.

Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
Laut, wie nur die Liebe rufen mag,
Sie bliesen es kam die zweite Nacht,
Umsonst, daß ihr ruft, umsonst, daß ihr wacht.

Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.