Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 3. August 2009, Heft 16

Weltchronik der Formel

von Günter Kröber

Was haben Michael Schumacher und Albert Einstein gemein? In beider Leben und Wirken spielt der Begriff »Formel« eine gewichtige Rolle. Der eine ist der erfolgreiche Formel-1-Rennfahrer, der andere suchte nach der »Weltformel«. Bei dem einen beinhaltet die Formel eine Gesamtheit technischer Regeln, welche für Fahrzeuge dieser Klasse gleiche Bedingungen im Rennen garantieren sollen; bei dem anderen geht es um das Gesetz, das den Gesamtzusammenhang der Welt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschreibt und erklärt. Während bei dem einen der Inhalt der Formel wohl bekannt ist, wird die eine, die alles umfassende Weltformel wahrscheinlich niemand je benennen können.
Der Begriff »Formel« hat eine ungeheure Bandbreite. Sie umfaßt Aussagen wie »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde« über Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens wie »Du sollst nicht töten!« und Regeln des Umgangs mit der Natur wie die alte litauische Bauernregel »Das Siebengestirn in der Röte (Abendröte), der Ochse in der Furche« bis zu Naturgesetzen wie »E = mc2« oder mathematischen Formeln wie »eip = -1«. Im vorliegenden Buch reicht sie vom Mondkalender der Vorgeschichte bis zur Aktienkapitalformel.
Es sind mitnichten nur mathematische Wahrheiten, die in Formeln gekleidet sind, nicht nur quantitativ faßbare Regeln und Naturgesetze, sondern auch Aussagen, welche gleichsam paradigmatisch eine bestimmte Sichtweise auf die Welt nahelegen. So mag man in dem griechischen Philosophen Anaximander (610-547 v. u. Z.) den ersten Schöpfer einer Weltformel sehen, denn er bestimmte als den Urgrund allen Seins das Apeiron, das Unbegrenzte, das qualitativ Unbestimmte.
In der Geschichte der Philosophie hat sich der Inhalt dessen, was als Urgrund, als Grundprinzip angesehen wird, fast mit jedem Philosophen geändert. Auch die in Formeln gefaßten Naturgesetze sind nicht unveränderlich; ihr Inhalt erweitert und vertieft sich mit jeder neuen Erkenntnis. Man denke etwa an die Ablösung des Ptolemäischen Weltsystems durch das Kopernikanische oder an den Schritt vom Newtonschen Verständnis der Gravitation zur Allgemeinen Relativitätstheorie und bis zu den heutigen Vorstellungen einer Schleifen-Quantengravitation
Für die Mathematik scheint selbiges nicht zu gelten. Der Satz des Thales oder der des Pythagoras gilt heute wie vor zweieinhalbtausend Jahren. Bücher zur Geschichte der Mathematik beschreiben deshalb vornehmlich mathematische Inhalte, erläutern die Beweise für bestimmte Sätze und die Ableitungen der zugehörigen Formeln. Im vergangenen Jahr 2008, das zum Jahr der Mathematik erklärt worden war, erschienen indes auch Arbeiten, welche die Geschichte der Mathematik nicht als reine Begriffsgeschichte darbieten, sondern sie in die kulturelle Entwicklung der Menschheit einordnen.
Man betrachte etwa das von dem Leipziger Mathematikhistoriker Hans Wußing verfaßte und bei Springer erschienene zweibändige Werk »6000 Jahre Mathematik. Eine kulturgeschichtliche Zeitreise.«
Heinz-Dieter Haustein setzt indes diese Tendenz keineswegs lediglich fort, sondern beschreitet völlig neue Wege. Gewiß wird auch hier – quasi nebenbei – eine Geschichte der Mathematik geliefert, doch ebenso eine der Philosophie, der Physik, Astronomie sowie der Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Im Mittelpunkt steht nicht eine einzelne Disziplin, sondern die »Formel«, deren Kulturgeschichte in verschiedenen Wissensgebieten untersucht wird.
Der Aufbau des Buches ist unikal. Die ersten drei Kapitel beschreiben, wie die fachspezifische Erklärung von Formeln mit dem historischen Hintergrund ihrer Entstehung und Anwendung verbunden werden kann. In den folgenden Kapiteln werden sodann die zehn großen historischen Perioden betrachtet, in die der Autor die Zeitspanne von der Vorgeschichte (30 000-4 000 v. u. Z.) bis zur informationstheoretischen Revolution und den Metamorphosen des Kapitals einteilt. Jedes Kapitel wird durch eine Einfiihning eröffnet, die den kulturgeschichtlichen Zusammenhang zwischen politischer, wirtschaftlicher und geistiger Entwicklung in der jeweiligen Periode erläutert.
Danach folgen jeweils zweigeteilte Seiten: Die linke Spalte zeigt die mathematischen Beziehungen, die rechte die spezielle Kulturgeschichte der Formeln mit ihren historischen Protagonisten. Das liest sich überaus spannend und hat den Vorteil, daß der Text des sich auf 325 Seiten belaufenden Buches nicht in einem Fluß hintereinander gelesen werden muß, sondern man sich jene Formel oder jene Periode herausnehmen kann, auf die es einem ankommt. Dabei ist keineswegs störend, daß auf ein und derselben Seite überaus verschiedene Formeln abgehandelt werden, nur weil sie zeitlich zusammen gehören wie zum Beispiel die von Sommerfeld 1915 gefundene Feinstrukturkonstante, die unmittelbar auf die betriebswirtschaftlichen Formeln vom Anfang des 20. Jahrhunderts folgt. Sach-, Namen- und Formel-Register geben die Möglichkeit, unmittelbar die gewünschte Formel oder Person aufschlagen zu können. All das gibt dem Buch einen enzyklopädischen Charakter und reiht es nahtlos in Hausteins frühere Werke »Weltchronik des Messens« (2001) und »Quellen der Meßkunst« (2003) ein.

Heinz-Dieter Haustein: Kulturgeschichte der Formel. Vom Mondkalender der Vorgeschichte bis zur Aktienkapitalformel, Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung München 2009, 325 Seiten, 65, 90 Euro