Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 17. August 2009, Heft 17

Volksinitiative mit Großdemonstration?

von Ronald Lötzsch

Wie vor wichtigen Abstimmungen üblich, beendete auch die LINKE ihren Wahlkampf für das Europaparlament mit einer Kundgebung. Diesmal – wie häufig schon – auf dem Berliner Alexanderplatz. Und natürlich nutzten Hinz und Kunz die Gelegenheit, für sich Reklame zu machen. Verteilt wurden beispielsweise Handzettel im DIN-A5-Format mit der Überschrift »Die Volksinitiative informiert«. Die ersten drei »Informationen« lauten: »Direkte Demokratie statt EU-Bevormundung!!!«, »GEGEN die Diktatur des internationalen Finanzkapitals!!!«, »FÜR eine Achse Berlin-Paris-Moskau!!! « Wer hinter diesen »superrevolutionären« Parolen steckt, schwant einem zwar schon nach den ersten Zeilen. Doch Gewißheit erhält man erst auf der Rückseite.
Die siebentletzte Zeile füllt die Bitte: »Unterstützen sie uns mit einer Spende! Jürgen Elsässer, Dresdener Bank« und so weiter.
Danach folgt: »Die Volksinitiative wird am Tag vor der Bundestagswahl eine große Demonstration für eine direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild durchführen. Bitte zeigen sie sich! Zeigen sie den Herrschenden die Macht des Volkes!«.
Der Appell schließt: »V.i.S.d.P. Jürgen Elsässer« und Adresse.
Es handelt sich also um jene »Volksinitiative«, die das »Neue Deutschland« veranlaßte, Elsässer den Stuhl vor die Tür zu setzen, nachdem es ihn vor etwas über einem Jahr nach seinem Hinauswurf aus der »jungen Welt« in Gnaden aufgenommen hatte.
In einer mit »In eigener Sache« überschriebenen Randnotiz erklärte die ND-Redaktion am 15. Januar dieses Jahres, sie möchte nicht, daß der Initiator »eine ständige ND-Autorenschaft als Werbung für sein politisches Projekt einsetzt«. Dies sei aber geschehen.
Was aus der »Volksinitiative« einmal werden könnte, wird wohl schon die »Größe« der angekündigten Demonstration zeigen.
In mein Blickfeld trat Elsässer am 16. Januar 1993 mit einem »Proletarier aller Nationen, massakriert Euch!« überschriebenen ND-Artikel. Darin bezeichnete er die Forderung nach dem nationalen Selbstbestimmungsrecht als »Kannibalenparole«. Von 1994 bis 1997 beglückte er als »Chefkommentator« der »jungen Welt« deren Leserschaft alle paar Tage mit Anti-PDS- beziehungsweise Pro-Milošević-Pamphleten. Dazwischen veröffentlichte er häufig »Grundsätzliches«, angeblich dazu bestimmt, für »radikalen Antinationalismus« zu werben.
Wann immer es zu passen schien – Ansätze gibt es leider in ihrem Nachlaß – berief er sich, teilweise auch mißbräuchlich, auf Rosa Luxemburg. Solchen Unsinn, wie die das Fundament von Elsässers »Lehre« bildende These »Nationen gibt es nicht« – so ein fettgedruckter Zwischentitel in einem jW-Artikel vom 30. September 1996 – hat sie aber nie behauptet.
Auch ein »radikaler Antinationalist« kann so etwas nicht durchhalten. Elsässers Texte strotzen folglich nur so von Widersprüchen, und zwar sowohl von einem Text zum anderen als auch innerhalb ein und desselben. Der angeführte, die Existenz von Nationen verneinende Artikel thematisiert im Untertitel »die besondere Aggressivität der deutschen Nation«.
Elsässers zwiespältiger Bannstrahl trifft häufig nationale Minderheiten. In dem eingangs erwähnten ND-Aufsatz bestreitet er die Berechtigung von Lenins Unterscheidung unterdrückender und unterdrückter Völker. Das entbehrt nicht einer gewissen Logik. Denn »kollektive Halluzinationen« – diese Existenzform billigt Elsässer Ethnien noch zu – kommen ja wohl für Unterdrückung weder als Subjekt noch als Objekt in Frage. Doch andererseits wird nicht bestritten, daß der Zarismus »Dutzende von Nationen unter seiner Knute« hielt.
Rosa Luxemburg wird in einer Würdigung anläßlich ihres Todestages, die 1994 in der »taz« und fast wortgleich ein Jahr später in der »jungen Welt« erschien, zu Recht als Verdienst die Überzeugung angerechnet, daß nicht nur die »herrschenden« Nationen das Gift der Intoleranz und Ausgrenzung in sich trügen, sondern auch »beherrschte« wie die polnische. Die Gänsefüßchen stammen von Elsässer.
Doch was sollen sie, wenn die Wichtigkeit der Unterscheidung hier akzeptiert wird? Die Begriffsverwirrung kulminiert in der Behauptung, Rosa Luxemburg habe die Lösung der nationalen Frage »nicht in der Konstruktion neuer Nationen und Staaten, sondern in der Destruktion der bestehenden« gesehen.
Worum es ihr in Wahrheit ging, wird in Elsässers Text von 1995 sogar unmittelbar nach der Verfälschung – ohne es zu bemerken, sich selbst konterkarierend – mit einem Zitat expliziert: »Die Arbeiterklasse darf nicht danach streben, neue bürgerliche (Kursiv von mir – R. L.) Staaten und Regierungen zu errichten, sondern sie abzuschaffen.«
Wäre Elsässers Phrase von der »Destruktion« der bestehenden Staaten ernstgemeint, müßte er eigentlich das Streben kleiner Völker nach staatlicher Unabhängigkeit unterstützen. Er diffamiert sie jedoch als »mythische Völker«, »Hilfsvölker« in »neugeschaffenen Puppenstuben-Staaten«, »5. Kolonnen der Nazis«. Die Slowaken gar als »Schimäre«. Was sie von den Tschechen, ebenso wie die Ukrainer – ein Volk von über vierzig Millionen – von den Russen, »angeblich« unterscheide, hätten vor der Sezession nur »volkstümliche Intellektuelle und machthungrige Politiker« definieren können.
Angesichts solcher Ignoranz und Arroganz kann kein Zweifel bestehen, daß der sogenannte radikale Antinationalismus eigentlich nicht einmal als nationaler Nihilismus zu charakterisieren ist, sondern die Geschäfte des jeweiligen Großmachtchauvinismus besorgt.
Ganz offen trat dies zutage, als das Jelzin-Regime 1994 gegen das kleine tschetschenische Volk, das drei Jahre zuvor seine Unabhängigkeit von Rußland erklärt hatte, seinen ersten Vernichtungskrieg begann. Da zeigte sich, wes Geistes Kind Elsässer in Wahrheit ist. In einem »Keine Tränen für Tschetschenien« betitelten Kommentar meinte er, daß russische Panzer in die »Provinzhauptstadt« Grosny »eingerollt« seien, sei »keineswegs« ein Grund für Aufregung und Empörung. Denn die Durchsetzung der Souveränität innerhalb seiner Grenzen gehöre zum Recht jedes Staates. Tschetschenien aber sei Teil des »russischen Staates« so wie »Kreuzberg Teil des deutschen«. Zeichnet sich tatsächlich die »Destruktion« eines von dubiosen Cliquen beherrschten Staates ab, dann hält er es mit dessen Machthabern.
Mit dem 1997 erfolgten Hinauswurf der »antinationalen« Fraktion aus der »jungen Welt« verlor sich Elsässers Spur im Dschungel der »Jungle World«. Ihr dort nachzugehen, widerstrebte mir.
Dann aber fiel mir unerwartet wieder ein Elsässersches Elaborat in die Hände. Im Dezemberheft 1999 von »konkret«. Die reißerische Überschrift: »Aufstand der Stämme«. Untertitel: »Kosovo war nur der Anfang. Der Dritte Weltkrieg wird wie der Zweite von den Blutsvölkern unter deutscher Führung vorbereitet«. Quintessenz: Nicht die Rivalitäten der Großmächte verursachen Weltkriege, sondern »die Leidenschaften der vermeintlich ›unterdrückten Völker‹ bewirkten jene tektonischen Erschütterungen, die das auf dem Wiener Kongreß 1815 penibel austarierte Gleichgewicht der Großen Mächte einstürzen ließ.« Zurück also zur Heiligen Allianz!?
Stalins von Staatsterror geprägtes Imperium mutiert somit aus Elsässers milder Sicht zur multikulturellen Idylle. Des Diktators die künftige Auslöschung implizierende Deportation ganzer Völker wird ausdrücklich gebilligt. Priorität habe in jedem Falle die »Staatsbürgernation«, zu der Elsässer auch die verblichene Sowjetunion stilisiert. Denn diese »ist zwar ein artifizielles Konstrukt, aber wenigstens ein Konstrukt … das Blutsvolk aber ist … ein Hirngespinst ohne jede materielle Realität«. Dieser These ist in dem Sinne zuzustimmen, daß sie Elsässers Phantasie entstammt.
Sollte es sich bei der »Volksinitiative« um ein ähnliches Phantom handeln?