Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 3. August 2009, Heft 16

Keine Beruhigung

von Peter Richter

Je länger die Wirtschafts- und Finanzkrise dauert, desto deutlicher wird, daß der reale Kapitalismus, das System in seiner derzeitigen Gestalt, nicht in der Lage ist, sie zukunftsfest zu bewältigen. Was er bisher angeboten hat, ist nicht mehr als ein Aussitzen der Probleme, die Orientierung auf ein möglichst unverändertes Weiter so« -und das alles nicht etwa auf eigene Kosten, sondern zu Lasten der Gesellschaft.
Mit tatkräftiger Hilfe der Politik, die bei noch keiner sozialen Katastrophe so schnell und umfassend »Rettungsschirme« aufspannte wie jetzt bei den Notrufen der Banken und Unternehmen, schufen diese nicht etwa die Voraussetzungen, um Irrwege der jüngeren Vergangenheit zu verlassen, sondern taten alles, um nach kurzer Umleitung auf diese zurückzukehren. Die Banken denken gar nicht daran, das ihnen als Rettungsring zugeworfene Steuergeld zur Minderung des angerichteten Schadens einzusetzen, sondern leiten es ohne Zögern in die alten Geschäfte; gleichzeitig tun sie alles, um die geplante Verschärfung der Kontrolle und Regulierung dieser Transaktionen zu verhindern, würden sie doch ein »Weiter so« erschweren.
Und sie haben dabei Erfolg. Ihre Lobbyisten handeln den Politikern ein Zugeständnis ums andere ab – und wie sehr sie selbst schon nicht mehr daran glauben, daß Banken und faktisch bankrotte Unternehmen jemals etwas von der ihnen jetzt geleisteten Hilfe zurückgeben, zeigen die schnell eingeleiteten Schritte, die aufgehäuften Schulden auf die Allgemeinheit umzulegen. Kaum waren die Milliardenansprüche der Banken befriedigt, wurde die »Schuldenbremse« erfunden; unter Verweis auf sie blocken Politik wie Krisenbegünstigte seither jede Forderung von Kurzarbeitern, Gekündigten, um ihre Ersparnisse Gebrachten und anderen Geschädigten der Zocker in den Chefetagen ab, wenigstens ein wenig vor den Folgen der von ihnen nicht verschuldeten Krise bewahrt zu werden. Da funktionieren die auf Eigennutz gerichteten Reflexe der »Leistungsträger« und ihrer politischen Wortführer sofort in gewohnter Weise – und man erörtert schon ganz offen, wer für den Ersatz des verspielten Geldes aufzukommen hat. Zum Beispiel jene, die den Löwenanteil zu einer Mehrwertsteuererhöhung beitragen würden. Oder die Rentner, denen man ihre Alterseinkünfte eigentlich nicht garantieren könne. Wer ist der nächste?
Die »Entscheidungsträger« wissen, daß sie sich solch Verharren im Scheitern auf Kosten anderer leisten können, denn eine Alternative zu ihrem überlebten Konzept ist vorerst nirgends in Sicht. Einmal mehr erweist sich, daß der reale Sozialismus, das System in der deformierten Gestalt am Ende des 20. Jahrhunderts, vor zwanzig Jahren nicht nur einfach eine Niederlage erlitt, sondern daß mit ihm auch alles unterging, was an einer überzeugenden Alternative zum Kapitalismus arbeiten könnte. Die Pervertierung der Geisteswissenschaften, auch der Wirtschaftswissenschaft, zur Apologetik der jeweiligen voluntaristischen Parteilinie in den sozialistischen Ländern wirkt bis heute lähmend auf alle, die echte Auswege aus dem Niedergang des Kapitalismus erarbeiten müßten. Die verengte Sicht auf die Welt, die der Sozialismus predigte, verhindert noch immer Gegenpositionen, Alternativkonzepte, die – auch wenn sie selbst nicht zum Tragen kämen – für die Machtgewaltigen eine Herausforderung darstellten, die sie zwänge, eben nicht zu versuchen, die Krise auszusitzen und ansonsten auf die Fortsetzung des alten Kurses zu hoffen, sondern um des Fortbestehens dieses Systems willen ernsthaft an die Überwindung seiner Probleme zu gehen.
Weitsichtige Theoretiker des Kapitalismus haben sich im Angesicht des Scheiterns des Sozialismus durchaus ernsthaft die Frage gestellt, warum sich dieses diametral entgegengesetzte System so lange halten konnte und was daraus für den Kapitalismus für Schlüsse zu ziehen seien. So stellte Peter Marcuse, Sohn des in der alten Bundesrepublik höchst einflußreichen Philosophen Herbert Marcuse, bereits 1992 in der »Frankfurter Rundschau« solche Fragen wie: Mit welchen Maßnahmen und zu welchem Preis wurde Vollbeschäftigung erreicht? Wie könnte dieser Preis reduziert werden? Was kann geplant werden und wie könnte anders und besser geplant werden? Welche Rolle müßten, könnten und sollten Privateigentum und privater Profit spielen? Wie funktionieren Städte ohne die Kommerzialisierung der Innenstädte? Was bewirkt das Fehlen eines Immobilienmarktes und was bewirkt es nicht? Was kann mit staatlicher Politik für die Gleichberechtigung der Frau erreicht werden und was nicht? Wie sieht eine Gesellschaft mit einer Einkommensspannbreite von 7:1 (vom höchsten bis zum niedrigsten Einkommen) im Vergleich zu einer anderen, wo diese Spanne bei 160:1 liegt aus?
Zu einer seriösen Beantwortung dieser Fragen ist es allerdings bis heute nicht gekommen; sie schien den »Entscheidungsträgem« ob ihrer »Sieghaftigkeit« überflüssig, und da die theoretische Beschäftigung mit Alternativen zum kapitalistischen System vor allem aus diesem Grunde abbrach und bis heute nicht wirklich wieder aufgenommen wurde, harren solche Fragen wie die Marcuses noch immer einer Antwort. Ihr Ignorieren hat allerdings zu einem beigetragen, daß auch der Kapitalismus jetzt in eine existenzielle Krise geriet, aus der sich ein Ausweg nicht findet. Ein praktikables, wirksames System, das an seine Stelle treten könnte, gibt es jetzt allerdings auch nicht; vor allem deshalb ist in Zukunft mit dem weiteren quälenden Niedergang des Kapitalismus, unwägbaren Fehlentwicklungen und möglicherweise noch nicht absehbaren Katastrophen zu rechnen.
Was dagegen helfen kann? Vermutlich nur die radikale Zuspitzung, die Verschärfung des Kampfes gegen die untätigen verantwortungslosen Verantwortlichen, wie sie schon in Frankreich, in Island und anderswo zu beobachten ist. Auch die Radikalisierung der Forderungen im Wahlkampf. Das wird zwar den Kapitalismus nicht abschaffen, aber vielleicht die Mächtigen dazu zwingen, neue Regeln des Wirtschaftens zu finden und anzuwenden. Und zwar durchaus in ihrem eigenen Interesse, das sie allerdings erst dann begreifen werden, wenn die Wähler nicht mehr zur FDP laufen.