Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 17. August 2009, Heft 17

Dorothy L. Sayers

von Günter Wirth

Dorothy L(eigh) Sayers gehört in England einerseits – und so ist sie einem breiten internationalen Publikum bekannt – zu den bedeutendsten Autorinnen und Autoren von Kriminalromanen, zusammen etwa mit Agatha Christie und P. D. James, andererseits – und das ist weniger bekannt – zu jener Plejade christlicher, zumal katholischer Schriftsteller von weltliterarischem Rang wie Graham Greene und K. G. Chesterton, um nur sie zu nennen. So auch ist das Werk der 1893 als Tochter eines Pfarrers aus dem Landadel geborenen und , 1957 verstorbenen Schriftstellerin zweigeteilt: Einerseits finden sich religiös geprägte Gedichte und Erzählungen sowie die Übersetzung von weiten Teilen der »Göttlichen Komödie« Dantes, andererseits ungefähr zwanzig Kriminalromane – und doch sind beide Teile wegen ihrer stilistischen Qualitäten und ethischen Prinzipien als Einheit zu sehen.
Tatsächlich bieten die Kriminalromane, die im allgemeinen in der sogenannten Zwischenkriegszeit spielen, mehr als schlechthin spannende Lektüre (diese freilich auch!). Eigentlich sind sie Gesellschaftsromane, und zusammengehalten durch den durchgängig als privater Detektiv besonderer Art auftretenden Lord Peter Wimsey nehmen sie einen gesellschaftlichen Charakter an. So muß oft genug auffallen, daß bei Sayers nicht nur der Detektiv aus der upper class kommt, auch der Täter kann dort geortet werden, und der Verdacht fallt dann schon einmal auf einen Angehörigen der sechshundert Jahre alten Familie des Lord Peter Wimsey (»Diskrete Zeugen«) – selbst wenn dieser schließlich entlastet werden kann, ist es letztlich doch ein Exponent der herrschenden Schichten, an dem ein Makel hängenbleibt. In dem Roman »In feiner Gesellschaft« wiederum ist es ein reicher Theatermäzen, der auf langen Umwegen als Doppelmörder identifiziert wird. In dem offenbar Anfang der zwanziger Jahre spielenden Roman über den »Toten in der Badewanne« findet sich das Porträt eines besonders raffinierten Mörders in der Gestalt eines renommierten Chefarztes aus der Elite der Gesellschaft. Und wenn die Täterin in dem im universitären Milieu spielenden Roman »Aufruhr in Oxford« eine Hausangestellte ist, die das Prestige ihres in seiner akademischen Karriere gescheiterten Mannes verteidigt, dann kommt sie zunächst überhaupt nicht als solche in Betracht; vielmehr gibt es kaum eine Professorin des ersten weiblichen Colleges (jedenfalls dieses Romans), die zuvor nicht als verdächtig im Visier des Detektivs gewesen wäre.
Noch etwas darf nicht übersehen werden. Lord Wimsey ist sozusagen kein professioneller Detektiv; er lebt von seinem Vermögen, und er gibt sich den Studien eines Privatgelehrten hin. Vor allem aber wird er als Emissär des Foreign Office porträtiert; oft genug muß er Ermittlungsschritte zugunsten diplomatischer Aktionen unterbrechen, und man muß aus gelegentlichen Äußerungen entnehmen, daß es sich um solche handelt, die gegen Nazideutschland gerichtet sind. Ein Zeichen für die politische Orientierung der Sayers, die sich übrigens auch nicht scheut, Ausflüge in die linke Szene nach dem Ersten Weltkrieg zu unternehmen (»Diskrete Zeugen«), wobei sie satirische Überzeichnungen allerdings nicht vermeidet.
Der bekannte Germanist Walther Killy hat einmal bemerkt, daß die, die die Sayers für eine bloße Krimiautorin hielten, sich um ein literarisches Vergnügen brächten. In der Tat ist damit der entscheidende Punkt getroffen. Dazu gehört, daß die Anlage der Romane unterschiedlich gestaltet ist. Es kann einen dokumentarischen, von Protokollen gesättigten Plot geben (»Diskrete Zeugen«), und im »Fall Harrison«, um 1930 spielend, sind es Briefe, Berichte und Notizen, die das erzählerische Gerüst bilden (und dabei werden komplizierteste naturwissenschaftliche Sachverhalte präziser Gegenstand der Aufdeckung eines Verbrechens, hier freilich ohne den Lord). Meistens aber sind ihre Romane durcherzählt, von gelegentlichen Rückblenden unterbrochen. Charakteristisch ist überdies, daß nicht nur der Lord fast durchgängig in Erscheinung tritt. Es gilt dies auch für andere Romangestalten. Ja, man kann verfolgen, wie Lord Peter und die Schriftstellerin Harriet Vane (Familientraditionen sprengend) fast doch noch zusammenfinden, wie auch seine Schwester Mary und der Scotland-Yard-Inspektor Parker, Peters Freund. Es sind dies alles andere denn kitschige, im Gegenteil sehr berührende Geschichten.
Immer auch finden sich beachtliche literarische Anspielungen, zumal aus der englischsprachigen Literatur, von Shakespeare, Ben Jonson und John Donne bis zu den Zeitgenossen von Dorothy Sayers, etwa C. P. Snow. Auch die antike Mythologie wird bemüht – in »Aufruhr in Oxford« beinahe etwas zu üppig: Da wollte sie sich wohl als eine gestandene Absolventin dieser Universität, als eine der frühesten, in elitärer Weise bestätigen.
Möglicherweise renne ich mit meinem Hinweis auf Dorothy L. Sayers offene Türen ein. Aber in diesem Falle schadet es nicht, wenn man noch einmal durch sie hindurchgeht. Man entdeckt sicher wieder etwas Neues …