Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 17. August 2009, Heft 17

Der Tod nebenan

von Lisa Buhl, Buenos Aires

Diese Häuser, diese Straßen, dieser Wind, der nur seinen Hinterkopf zeigt, das Gesicht anderen Weiten zugewandt. Die Gerüche beschreiben wollen. Die feuchte Luft, die mir beim Verlassen eines Ladens entgegenschlägt, den Muff der U-Bahn, meine Yerba-Mate und die Wärme des Mate-Tees, die nach Schlaf riechende Luft des Zimmers, die sehr eigene Note der hiesigen Wohnungen. Die Düsternis der Schlafzimmer und die eines Theaters. Gesichter, die mir entfernt bekannt vorkommen, die ich bald Menschen zuordne und Namen. Der leicht keifende, immer zur Übertreibung neigende Ton der Porteños – so nennt man die Bewohnerinnen und Bewohner der argentinischen Hauptstadt –‚ die Eile, die Schnelligkeit, mit der auch Herzlichkeit und Bekanntschaft gemacht werden.
Eine Geschichte könnte ich erzählen, von Tod, von Wut, von fliegender Verzweiflung, von sterbender Hoffnung, eine mehr.
Durch meine Augen gesogenes Geschehen, durch meinen Körper fließende Worte, aus mir quellende Bilder, die alle in mir sind, die nicht mir gehören, nicht mir – und niemandem. Wem könnten die Worte gehören, die Geschichten? Sie sind mein und sind es nicht, sind alle nur gestohlen und fallen doch so schmerzlich auf mich zurück, so daß ich fragen muß, wie oft noch muß ich »ich« schreiben, um erzählen zu können, ohne von mir zu sprechen. In den Schatten treten, aus dem Halbdunkel schildern, wo mein Name namenlos wird, wo das eigentlich Wichtige endlich ganz sein kann:
Großes Haus, kleines Licht, tägliche Dämmerung. Immer gleiche Gestalten, tagein, tagaus, Nacht. Drei Generationen, ein Dach, ein Boden, der aus Mitgefühl nicht bebt, aber die Lippen beben, die Beine zittern In leisem Gang. Tod liegt in der Luft.
Ginge das? Wäre er tatsächlich in der Luft zu spüren? Zumindest in die Menschen gezogen ist er, auch in die, die nicht sterben, beinahe alle, beinah.
Da ist das Sterben noch eine vage Idee, ein ins Herz gebranntes Zeichen, eine unheimliche Ahnung, eine vorgefertigte Vorstellung von der Stange der Gesellschaft, der Kultur. Der Tod vielleicht schon ein Bekannter, der der einen mehr, der anderen weniger vertraut ist, aber doch kein Unbekannter mehr. Doch lieber denken wir an Wichtigeres: das Essen heute Abend, die Stunden bis zum Morgengrauen, die Arbeit, das Studium, jener blaue Fleck am Oberarm.
Eine liegt im Bett und stirbt und stirbt und stirbt doch noch nicht und hat Angst und will nicht, bitte noch nicht, ach dieses Leben, ach jene Leichtigkeit der Jugend, welch Sehnsucht und welch Schmerz. Welch Schmerz. Fieber, Delirium, Schmerzmittel, Schmerzmittel bis zur Besinnungslosigkeit, Mithilfe zur langen Agonie, was macht ihr denn, Ärzte im weißen Kittel?
Das und nichts weiter, es ist nichts mehr zu tun. Das Spiel ist ausgespielt, mit Gott, dem Teufel, der Mutter Erde oder wem auch immer. Die Karten wurden eine nach der anderen abgeworfen, auf den letzten Stich wird nun gewartet. Und er kommt, fällt schon, merklich, grausig.
Eine Handvoll Menschen bleibt, um zu regeln und zu klären, was keinen Ausweg mehr hat. »Angehörige« heißt, Angehörige eines Menschen, der schon im Gehen ist, Angehörige eines »Schicksalsschlages« (doch ist es tatsächlich das Schicksal, das schlägt?), Angehörige des Unverständnisses, des Geheimnisses des letzten Endgültigen.
Die Tochter jener Kranken, die sie begleitet in allem, bis in die dröhnenden, gierigen Gedanken des Todes hinein, die ihren eigenen Schmerz niederringt, will der Mutter noch alles geben, was irgend geht, und dabei ihre eigene Tochter auffangen im unerklärlichen Sturz des Verlustes; und doch noch Geduld dem Bruder, der eisern das anstehende Erbe kalkuliert – verloren, verrannt in seiner Gewalt und seinem Irrsinn – entgegenbringen;
den Freunden und Bekannten, die anrufen und fragen und fragen, die immer schlechteren Nachrichten weitergeben …
Wem sollte diese sterbenskranke Frau um die siebzig ihre Angst vor dem Tod anvertrauen, dem eigenen, der sich ankündigt mit Megaphonen? Bewußt das Sterben erleben, wo lernen wir das? Wo wird der Tod gelehrt, und nicht nur das Töten? Das Bett, das eigene im Haus und ein immer wechselndes im Krankenhaus; die Schmerzen, die unausstehlichen; die Tabletten und Säfte, die taub machen und stumpf und fühllos im Körper, wobei der Kopf weiß, was geschieht, wobei das Herz rast, als könnte es jenes Wettrennen doch noch gewinnen; die Gedanken, die nicht ruhen, die quälender sind als der Schmerz. Der Tochter erzählen wollen aus der Vergangenheit und aus der so grausam präsenten Gegenwart, von der Angst und der Spannung, die innerlich reißt an der Seele. Die Enkelin einmal mehr umarmen mögen, einmal weniger schelten für Schabernack und Ungeduld und vorlautes Geplapper.
Diese kleine Enkelin, die so klein nicht mehr ist, schützt sich gegen das Außen mit Unnahbarkeit. Nach innen weint sie, alles macht sie wütend, traurig, verwirrt, alles glaubt sie, gegen sich gerichtet zu sehen, denn die Oma stirbt, sie stirbt, und niemand versteht das, und niemand kann wirklich darüber reden, wohin mit all dem? Spaß und Geflüster mit den Freundinnen, mit der Mutter Diskussionen und Gespräche, mit wem aber könnte sie dieses Grauen vor dem Tod eines so unendlich nahen Menschen, der Oma, der zweiten Mutter, teilen?
Und die Tochter der Kranken, die selbst Mutter ist und Schwester und Freundin, »Aktivistin des Lebens«, wie der uruguayische Dichter Mario Benedetti einst schrieb. Jene Frau spürt die Sorgen, die Trauer ihrer Tochter in der eigenen Brust und den Bogen aus Hilflosigkeit und Unantastbarkeit, der sie umgibt, der beide sprachlos macht. Nur beieinander, in gegenseitiger Gesellschaft kann stumm von einer zur anderen ein Gefühl der Gemeinsamkeit wechseln, ich weiß, und du weißt, zusammen sind wir weniger allein, wie in jenem beliebten Roman, wenn das hier doch auch nur eine Geschichte wäre …
Die langen Tage im Krankenhaus, die noch ewigeren Nächte, das Ausharren am Krankenbett, das Einatmen der schweren Luft, der kranken Luft, der Elendsluft. Das Einschließen aller Pflichten in sich selbst, viel muß liegen bleiben dieser Tage, und vieles bleibt ungelebt. Das Fenster hinaus ein Hoffnungsschimmer, da draußen muß es eine andere Welt geben, ein bißchen Internet die Tür dazu, zur Ablenkung, zu Nachrichten, guten und schlechten. Eine Unterhaltung kann Weinen machen und lachen, beides vollkommen sinnlos in einer solchen Situation und doch das einzige, was hilft. Da sein und reden, reden und fragen und antworten, umarmen, wie es eben geht, sich ansehen und stumm verstehen. Doch begreifen, das alles wahrhaftig begreifen, will niemand …
Ihre Mutter stirbt und weiß darum, die Tochter beginnt langsam zu verstehen, und sie ist Ansprechpartnerin beider, in diesem tödlichen Karussell, da will sie mildem, was kaum menschenwürdig zu mildem ist, da will sie auffangen und abfedern, was menschenmöglich nicht zu leisten ist. Da rückt der eigene Schmerz über all das in den Hintergrund, denn die Sorgen, denn die vielen Gänge, denn das Kümmern um Tochter und Mutter, denn die Organisation jeder Kleinigkeit, des Haushaltes, denn der Ärger über den grausamen, verrückten Bruder und die Arbeit, die Arbeit, die drängt und nicht bewältigt werden kann …
Denn sie will doch!
Alles schaffen, Himmel und Hölle schweigen machen, das Leben spielen, das sie sucht (schon lange und immer weiter) und das sie sucht, immer weiter …
Bis der Tod kommt.
Es ließe sich fragen, dieser Tod, kommt er in Gestalt eines Sensenmannes oder in der einer schönen Frau? Das wird noch zu klären sein, für jeden von uns. Vielleicht ist es keine jener tröstenden, malerisch poetischen Vorstellungen, vielleicht ist es einfach nur Tod.
Hier wird auf einen Tod gewartet, der verändern wird, tief, nach innen und nach außen, und das »nur« im Leben einiger weniger Menschen.
Aber, macht es das nichtiger oder weniger grausam?
Warum diese Stummheit, warum schweigen wir den Tod, warum schreien wir ihn nur nach innen? Ein Schutzmechanismus? Ist es angeboren, dieses Schweigen, angelernt, antrainiert im Ringen mit dem Unfaßbaren, mit dem ewigen Lebensrätsel, das sich auflöst am Ende, in Frieden oder in Grauen? Und wen schützt es denn, und wie? Warum sind wir so unfähig, den Tod anzunehmen als Teil des Ganzen, als Teil von uns, ihn anzumalen in allen Farben, in Bilder zu fassen und in Tönen zu singen wie die Liebe, ohne Angst, ohne ausschließliche Negativität?
Weil er schmerzhaft ist und weil Sterben in dieser Gesellschaft oft noch grausamer ist als viele Leben.
Oder ist da mehr? So gebildet fühlen wir uns und so weit entwickelt, in dieser Menschheitsgeschichte, und so wenig haben wir gelernt, so wenig verstanden.
Was bleibt uns? Alles zu lernen, und wieviel gerade von jenen Kulturen, die als primitiv oder unterentwickelt in den Berichten auftauchen!