Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 17. August 2009, Heft 17

Das nukleare Menetekel

von Wolfgang Schwarz

Am 5. Dezember 2009 endet mit dem 1994 in Kraft getretenen START-I-Vertrag das erste Abkommen zur Abrüstung strategischer Nuklearwaffen mit Reichweiten über 5 000 Kilometer und zugleich das letzte Rüstungskontrollabkommen, das die USA und Rußland unter Dach und Fach gebracht, vertragskonform realisiert und dessen Verwirklichung sie auch im notwendigen Umfang verifiziert haben.
START II, unterzeichnet am 3. Januar 1993, wurde von Rußland nicht rechtskräftig ratifiziert und nach dem einseitigen Ausstieg der USA aus dem ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme im Juni 2002 offiziell aufgegeben, um unter anderem nicht an das darin enthaltenen Verbot von landgestützten Interkontinentalraketen (ICBMs) mit Mehrfachsprengköpfen gebunden zu sein. Die vereinbarten Verhandlungen über ein START-III-Abkommen kamen gar nicht mehr zustande.
Und das sogenannte SORT-Abkommen (Strategic Offensive Reduction Treaty) vom Mai 2002 schließlich haben zwar beide Seite ratifiziert und damit eine Reduzierung ihrer strategischen Arsenale auf je 1 700 bis 2 200 stationierte Sprengköpfe bis Ende 2012 vereinbart. Das Abkommen enthält aber keinerlei technologische Beschränkungen – etwa ICBM mit Mehrfachsprengköpfen betreffend –, klammert Reservegefechtsköpfe aus, und es wurde keine Einigung über die Verifikation nach Ablauf von START I erzielt.
Vor dem Hintergrund dieser und anderer internationalen Entwicklungen beschrieb der amerikanische Präsident Barack Obama das nukleare Menetekel über den Häuptern unserer und nachfolgender Generationen in seiner Rede in Prag am 5. April zutreffend folgendermaßen: »Der Kalte Krieg ist zu Ende gegangen. Und Tausende dieser (nuklearen – W. S.) Waffen existieren weiter. Es ist eine seltsame Wendung der Geschichte: Die Gefahr eines weltweiten Atomkrieges hat sich verringert, das Risiko eines atomaren Angriffs ist gestiegen. Mehrere Nationen haben solche Waffen entwickelt, die Tests gehen weiter, der Handel mit spaltbarem Material auf dem Schwarzmarkt blüht.«
Die Hauptverantwortlichen für diese Sachlage hat Obama in Prag allerdings nicht benannt: die USA und Rußland, die zusammen über etwa 95 Prozent aller Kernsprengköpfe verfügen, und die anderen Nuklearmächte der ersten Generation – Großbritannien, Frankreich und China. Drei dieser Mächte (USA, Sowjetunion, Großbritannien) haben der Welt zwar den Atomwaffensperrvertrag von 1968 beschert, der das Aufkommen weiterer Nuklearmächte verhindern sollte, und die beiden anderen sind diesem Vertrag später beigetreten, aber alle zusammen haben sie sich viel zu inkonsequent (USA, Rußland) oder gar nicht (die drei anderen) an die in Artikel VI verankerte, zuvorderst für die Atommächte geltende Verpflichtung gehalten, »in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle«.
Hinzu kamen laxe, wenn nicht wohlwollend ignorierende oder wirkungslose, weil nicht gemeinsame Reaktionen des Atomclubs auf die nuklearen Ambitionen solcher Länder wie Israel, Indien und Pakistan. lm Falle Israels hat Frankreich – vor seinem Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag – sogar entscheidende nukleartechnische Anlagen geliefert. Und im Falle Indiens haben die USA praktisch die Adelung von der illegalen zur offiziellen Atommacht vollzogen.
Unter Experten ist kaum umstritten, daß all dies die nuklearen Bestrebungen Nordkoreas und Irans zusätzlich befeuert und das internationale Atomwaffensperrvertragsregime an den Rand des Scheiterns, wenn nicht de facto bereits darüber hinaus gebracht hat. Schon die turnusmäßige Überprüfungskonferenz aller mittlerweile über 180 Mitgliedsstaaten im Jahre 2005 war ohne Ergebnis zu Ende gegangen, und auch die Aussichten für die nächste Konferenz im Frühjahr 2010 geben zur Zeit keinen Anlaß zu Optimismus.
Insofern kam Obamas Bereitschaftserklärung in Prag, »den Frieden und die Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen anzustreben« – diesen Gedanken hatte er im Grundsatz bereits als Präsidentschaftskandidat in seiner Berliner Rede vom 7. Juli 2008 formuliert – im Hinblick auf das NPT-Regime eher fünf nach als fünf vor zwölf.
Daß Obama bereit scheint, den Worten Taten folgen zu lassen, und Rußland einem Nachfolgevertrag für START I ebenfalls grundlegend positiv gegenüber steht, legen zumindest die zwischenzeitlich dazu begonnenen bilateralen Gespräche nahe. Deren Ausgangspunkt ist der Status quo, der sich nach Angaben des US-Außenministeriums – mit Stand vom 1. Januar 2009 – folgendermaßen darstellt: Rußland verfügt noch über 814 strategische Trägerraketen und 3 909 Gefechtsköpfe. Dem stehen auf amerikanischer Seite 1 198 Raketen und 5 576 Gefechtsköpfe gegenüber. Unter Berücksichtigung der größeren Startmasse des russischen Arsenals betrachten Experten dieses Größenverhältnis als gleichgewichtig, als strategische Parität.