Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 17. August 2009, Heft 17

Bemerkungen

Kapitalismus I

Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Überzeugung, daß widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden.

John Maynard Keynes

Kapitalismus II

Und gehts gut, so ist der Kapitalist ein tüchtiger Kerl, auch zeigt dies, daß die Wirtschaft nicht auf private Initiative verzichten kann. Gehts aber schief, so ist das ein elementares Ereignis, für das natürlich nicht der Nutznießer der guten Zeiten, sondern die Allgemeinheit zu haften hat. Wirf den Bankier, wie du willst: Er fallt immer auf dein Geld.

Kurt Tucholsky

Sex in the country

Eines jener Institute, die gemeinsam mit Fernsehen und bunter Presse daran arbeiten, die Intelligenzquotienten ihrer Opfer zu minimieren, hat per Umfrage herausgefunden, daß »Liberale am häufigsten Sex« (haben). Nämlich: »Anhänger der FDP haben im Schnitt 2,1 Mal wöchentlich Sex«, Unions- und Linkenwähler nur 1,8 Mal, die Grünen bloß 1,7 Mal, und die SPD-Wähler mit gar nur 1,5 Mal je Woche sind sozusagen die Hänger. Da brauchen sich Steinmeier und Genossen nicht zu wundern, daß ihre Partei laufend an Zustimmung verliert. Das erklärt auch, warum die »ehemalige Porno-Darstellerin Dolly Buster sich aktiv für die FDP engagiert«, wie von und an gleicher Stelle vermerkt wird. Man kann sogar die Wählerwanderung von der CDU zur FDP nachempfinden, schließlich lautet das Ergebnis 2,1 zu 1,8 zu Gunsten der FDP. Nachdenklich stimmen allerdings die Zahlen hinter dem Komma. Was ist ein 0,1- oder 0,5-Geschlechtsverkehr? Man kann sich das natürlich ausdenken. Aber präzise definiert ist das nicht. Und bei diesen Zahlen hinter dem Komma schneidet die FDP am schlechtesten ab. 0,1 – das ist dürftig. Deshalb, bevor man sich ein endgültiges Urteil bildet, möchte man wissen, wer bei der FDP ist das, der nur 0,1 mal pro Woche kann?

Günter Krone

Ruf in den Wald

Selten hat ein politischer Zeitgenosse dergestalt polarisiert wie »der Maueröffner« Günter Schabowski. Daß er Zeit seiner nachwendigen Existenz für Begeisterung auf der schwarzen Seite des politischen Farbenspektrums gesorgt und ebenso viele Vorlagen geliefert hat wie auf der roten Seite Anlässe zur ewigen Verdammnis, steht außer Frage. Daß sich dabei das konservative Lager an eifriger Bußfertigkeit delektiert, ist leicht nachvollziehbar.
Die Ablehnung, ja, der regelrechte Haß, mit dem die Wagenburg der einstigen »Kampfgefährten« Schabowskis schonungslose Bearbeitung seiner und – mehr oder weniger – vieler anderer DDR-Vergangenheit verfolgt, spricht indes deutlich mehr gegen sie als gegen den Verfemten.
Denn mag man zu Recht beklagen, daß und wie sich das einstige Politbüromitglied dem vormaligen politischen Gegner in die Arme warf, und mag man es ebenso zu Recht als simplen Paradigmenwechsel verurteilen, daß er jenen DDR-sozialisierten Linken stante pede keinerlei Existenzberechtigung zubilligte, die willens waren, sich vom stalinistischen Erbe ihrer verhängnisvollen Vergangenheit zu lösen – was Günter Schabowski über die unsägliche Diskrepanz von Idee und Praxis jener politischen Periode zu sagen hat, an der er selbst maßgeblich mitgewirkt hat, ist allemal wert, zur Kenntnis genommen zu werden. Und zwar gerade bei jenen, die auf ihre Weise ähnlich in das Projekt »Sozialismus auf deutschem Boden« involviert waren und bis heute im Gegensatz etwa zu Schabowski nicht bereit sind, ihr Zutun an dessen Scheitern zur Voraussetzung eines wirklichen linken Neuanfangs zu machen. Daß es derer 20 Jahre nach dem Mauerfall noch immer so vieler mehr gibt als – durchaus in einem linken Sinne – Einkehrbereite, macht die Größe des über vierzig DDR-Jahre angehäuften Dilemmas nur umso deutlicher. Nein, man muß Günter Schabowski wirklich nicht lieben. Wer ihn aber meint verdammen zu müssen, könnte und sollte erst einmal versuchen, sich substantiell mit dessen Analyse des DDR-deutschen Realsozialismus auseinanderzusetzen. Aber das ist in den Kreisen von Exorzisten nicht eben üblich. Und so .wird auch diese Empfehlung totsicher ins Leere laufen.

Heinz W. Konrad

Wir haben fast alles falsch gemacht, Günter Schabowski im Gespräch mit Frank Sieren, Econ Verlag Berlin 2009, 288 Seiten, 19,90 Euro

U-Bahn-Neuigkeiten

Zur Einweihung der 1450 m langen U-Bahn-Linie 55

Die U-Bahn – ein genialer Streich
für Kanzler zur Verwendung,
wir habens ja, wir sind doch reich –
wer spricht hier von Verschwendung?

Ein Kilometer insgesamt
steht allen zur Verfügung,
vom Hauptbahnhof ins Kanzleramt
führt diese Volksvergnügung.

Minister kommen schnell genug
zum Dienst in Berlins Mitte,
vielleicht im Autoreisezug
zur Kanzlerin-Visite.

Die Dame mit dem Namen Schmidt
steht nun nicht mehr im Feuer,
und alle Medien spielen mit:
die U-Bahn ist uns teuer.

Wenn sich in dieser U-Bahn gern
bald nur Touristen räkeln,
dann liegt Kritik uns völlig fern –
wer wagt es noch zu mäkeln?

Lotar Cibis

Ich wäre gern in Essen

Hin und wieder bekomme ich Post von der minijobzentrale. Die minijobzentrale verwaltet prekäre Arbeitsverhältnisse. Sie sitzt bei der Knappschaft Bahn See in Essen.
Früher haben sie wahrscheinlich die Sozialversicherungen der Bergleute, Eisenbahner und Seeleute verwaltet. Früher, als es noch Bergleute, Eisenbahner und Seeleute in Deutschland gab. Als wir noch nicht die Dienstleistungsgesellschaft hatten. Jetzt verwalten sie eben Minijobs. Kleine Arbeit, so nennen sie das.
Ich war noch nie in Essen. Manchmal träume ich davon.
Essen muß eine wunderbare Stadt sein. In Essen hat die Deutsche Kommunistische Partei ihren Sitz. Früher muß es dort einmal Kommunisten gegeben haben.
Ich stelle mir dann vor, wie die Bergleute, Eisenbahner und Seeleute kommunistische Betriebsgruppen gebildet haben, um etwas für ihre Sozialversicherung zu tun. Ein bißchen bin ich wegen der Seeleute irritiert. Essen liegt ja nicht am Meer. Aber eventuell konnte man auf der Ruhr oder auf dem Rhein-Herne-Kanal Binnenschiffahrt betreiben.
Ich weiß nicht, was sie in der Deutschen Kommunistischen Partei jetzt machen. Sie haben einen Twitter-Account, der schon monatelang nicht aktualisiert wurde. Vielleicht macht es ihnen keinen Spaß mehr.
In Essen gibt es einen Fußballverein, der Schwarz-Weiß Essen heißt. Sie haben 1959 den Pokal gewonnen. Das ist fünfzig Jahre her. Schwarz-Weiß spielt jetzt vor 400 Leuten 5. Liga in einem Stadion, das Uhlenkrug heißt. In den Uhlenkrug passen 20 000 Zuschauer. Sie warten auf bessere Zeiten. Ab und zu verschickt der Verein einen Newsletter, der mich zu Tränen rührt. Schwarz-Weiß Essen soll ein bürgerlicher Verein sein, habe ich gelesen. Der Arbeiterverein sei Rot-Weiß Essen im Norden der Stadt. Dort gehen wahrscheinlich diejenigen hin, die früher mal Bergleute, Eisenbahner und Seeleute waren. Wenn sie noch zum Fußball gehen.
Sonst weiß ich aber nichts über Essen.

Stefan Kalhorn

Positiver Pessimismus

Alle mal herhören, verlese das Manifest:
Positiver Pessimismus ist die Stammtischphilosophie des kleinen Mannes in verbrämendem Kostüm. Wenn alles aussichtslos scheint, sagt man, alles sei zu Ende, unwiderruflich. Wenn die Welt einzustürzen scheint, nimmt man das Universum gleich mit. Wenn wieder eine Bildzeitung verkauft wurde, dann ist die Kultur dahin, Zivilisation und alles, was auf ihrem dünnen Firnis errichtet wurde, sowieso.
Schwarz, tiefschwarz, schwärzer als schwarz sind die Farbabstufungen, die diese Philosophie kennt – Licht ist nicht vorhanden, Licht wird absorbiert! Wenn welches doch vorhanden sein sollte, wird es nicht gesehen, aber erträumt, erträumt aus dem dunkelsten Dunkel. Durch Dunkelheit zum Licht! lautet der Leitsatz eines jeden Positiven Pessimisten!
Er will niemals Recht behalten, er beansprucht es aber in der Hoffnung, daß pessimistisches Denken das Positive schlechthin gebiert: Schreit eure Warnungen, und sie werden hören, zeigt ihnen das Dunkel, und sie gehen ins Licht – der Glaube an den Menschen ist die einzige, aber unausgesprochene, Hoffnung aus der der Positive Pessimismus seine Kraft zieht. Wo es einen Positiven Pessimismus gibt, existiert natürlich auch ein negativer Positivismus: Alles wird in den schönsten, strahlendsten Farben gemalt – aber diese Welt ist eine andere, eine düstere. Nicht, wie hier imaginiert, positives Denken gebiert das Gute, sondern nur negatives, da jeder vermessne Höhenflug in die Tiefe führt!
Ob ein dritter Weg existiert, werdet ihr fragen. Natürlich, doch ist dieser abzulehnen, Rationalität wird er genannt. Heißt: positiver Positivismus und negativer Pessimismus in eins gesetzt. Sie wollen suggerieren, daß Abwägen und überlegtes Urteil zu einem klaren Bild der Lage führen. Wissenschaft nennen diese Scharlatane dies. Das ist unser Weg nicht. Vernunft: Nein! Gefühl: Ja, und nur das. Denn wir positive Pessimisten wurden immer von der Geschichte, die den Menschen immer ihr infames Schnippchen schlägt, bestätigt: Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt. Wir haben gelernt und tricksen sie hier und heute und morgen und auch noch übermorgen aus.
Manifest beendet.
Alle trinken weiter, unser positiver Pessimist setzt sich und trinkt mit – Stille.

Paul

Menschenbilder

Peter Struck: »Das Menschenbild, das wir hatten, war vielleicht zu positiv. Es war zu optimistisch anzunehmen, daß Menschen das System nur in Anspruch nehmen, wenn sie es wirklich brauchen.«.

Kurt Tucholsky: »Der SPD-Führer: ›Was meinen Sie, was ich schon alles verhütet habe!‹ – Eins hat er bestimmt nicht verhütet: sich selber.«

Wirsing

Neues Deutschland berichtete über einen Abiturienten, der anderthalb Stunden lang in Berlin-Mitte gegen die Schulreform demonstrierte: »Die Entscheidung zu einem zweigliedrigen statt einem dreigliedrigen Schulsystem ist nicht gut überdacht worden«, wird er zitiert. Weil Dächer in Berlin und Umgebung immer wieder einstürzen, setzt der Senat jetzt auf Untertunnelungen. Vielleicht würden Abiturienten auch bessere Ausdrucksnoten erreichen, wenn das Schulsystem gut untertunnelt wird.

Fabian Ärmel