Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 31. August 2009, Heft 18

Atomwaffensperrvertrag

von Wolfgang Schwarz

Die Strategische Parität ist der Schlüsselbegriff aller bisherigen russischamerikanischen Abrüstungsansätze im nuklear-strategischen Bereich (siehe auch im vorigen Heft Wolfgang Schwarz: Das nukleare Menetekel). Dahinter steht die traditionelle, symmetrieverhaftete Abschreckungslogik: Beide Seiten verfügen über vergleichbar große beziehungsweise schlagkräftige Arsenale, was deren Einsatz gegeneinander verhindert, ergo Krieg verhütet, solange die Akteure rational handeln – denn unter diesen Bedingungen stirbt als zweiter, wer als erster schießt. Der vernichtende Gegenschlag ist nicht zu verhindern. Diese Logik war zugleich auch einer der Motoren des Wettrüstens, weil in irgendeinem Teilbereich immer einer von beiden die Nase vom hatte und der andere dann »nachrüstete« – im Namen der Parität. (Teile des politisch-militärischen Establishments der USA und der ihnen nahestehenden Think Tanks glauben allerdings offenbar bis zum heutigen Tage, daß diese Patt-Situation durch eine technologisch herbeizurüstende sogenannte Erstschlagskapazität – die Fähigkeit, Rußland überraschend angreifen und sein nukleares Vergeltungspotential komplett ausschalten zu können –, überwindbar wäre. Siehe dazu Wolfgang Schwarz: Raketenabwehrschach, Das Blättchen, 4/2009)
Ein Paradigmenwechsel hin zu einer asymmetrischen Kriegsverhütungsabschreckung würde völlig neue Spielräume selbst für weitreichende einseitige Abrüstungsschritte eröffnen. Nehmen wir Rußland: 50 – und diese Zahl ist willkürlich hoch angesetzt – landgestützte Interkontinentalraketen (ICBMs), programmiert auf die 50 größten amerikanischen Städte, würden jede amerikanische Regierung davon abhalten, Rußland nuklear anzugreifen. Mit weiteren 50 ICBMs gegenüber China und je zehn gegenüber Großbritannien und Frankreich wäre eine vergleichbare Abschreckungswirkung zu erzielen. Diese Quantitäten könnte man vorsichtshalber verdoppeln, etwa um Sicherheitsneurotikern im eigenen Land Wind aus den Segeln zu nehmen. Fazit: Mit nicht mehr als 240 ICBMs könnte Rußland den gesamten Club der alten Atommächte in Schach halten, solange man dies für nötig hält. Auf den übergroßen Rest seiner landgestützten Langstreckenraketen sowie auf sämtliche Raketen-U-Boote und Langstreckenbomber könnte Rußland ohne Einbußen hinsichtlich einer wirksamen Kriegsverhütungsabschreckung verzichten.
Leider ist in Moskau noch niemand auf diese ldee gekommen, obwohl der damalige Präsident Wladimir Putin Ende der neunziger Jahre gegenüber der Duma mit dem Argument für die Ratifizierung von SALT II geworben hatte, Rußland könne sich die Aufrechterhaltung der strategischen Nukleanvaffen auf SALT-I-Niveau wirtschaftlich nicht leisten. Und auch von seiten der USA ist ein derart radikaler Paradigmenwechsel nicht zu erwarten. Zwar hat Obama in Prag zugleich auf die Notwendigkeit verwiesen, »eine Reduzierung der Rolle der Nuklearwaffen in unserer eigenen nationalen Sicherheitsstrategie« herbeizuführen, aber bisher gibt es keine Anhaltspunkte dafür, daß dies zu einer Revolution im militärstrategischen Denken in den USA führen könnte.
Um so wichtiger ist es, daß beide Seiten ihre Vorstellungen über Eckpunkte eines Start-I-Nachfolgeabkommens inzwischen präzisiert haben. Beim Besuch Obamas in Moskau Anfang Juli kam man überein, die Anzahl der strategischen . Atomsprengköpfe in den kommenden sieben Jahren auf maximal 1675, vielleicht sogar auf 1500 abzusenken. Bei den Trägersystemen wird eine Obergrenze zwischen 500 und 1100 Raketen anvisiert. Die abschließende Festlegung der Zahlen wurde an die verhandelnden Experten verwiesen. Beiden Seiten, das hatte Obama bereits in Prag unterstrichen, sind bestrebt, zu einer rechtsverbindlichen Übereinkunft noch in diesem Jahr zu gelangen.
Ob sich diese Eckpunkte in der bis zum 5. Dezember verbleibenden Zeit tatsächlich bis zu einem unterschriftsreifen Abkommen ausverhandeln lassen, wird von manchen Beobachtern, und zwar auf beiden Seiten, bezweifelt, weil in den Details der Materie mehr als nur ein Teufel lauert. So könnte die russische Forderung, daß die USA bindend auf die Pläne zur einseitigen Errichtung neuer Raketenabwehrkapazitäten verzichten, zum Stolperstein werden. Sollte Rußland diese Frage in der jetzigen Phase jedoch tatsächlich zum Junktim aufbauen, würde dies grundsätzliche Zweifel am tatsächlichen Interesse des Landes an weiterer strategischer Abrüstung und an einer Beibehaltung und Stärkung des Atomwaffensperrvertrages provozieren. Mit den jetzt anvisierten Obergrenzen nämlich wäre noch auf Jahrzehnte jedes denkbare neue Raketenabwehrsystem eines potentiellen Angreifers überfordert, einen russischen Gegenschlag mit Sicherheit auszuschließen. Ein Junktim ließe sich daher, wenn überhaupt, erst in einem späteren Abrüstungsstadium rechtfertigen – und auch dann nur, wenn die USA an ihren Plänen festhielten und die in dieser Hinsicht von Obama während seines Besuches in Moskau erklärte Kooperationsbereitschafi nicht praktisch einzulösen bereit wären. In Moskau hatte Obama gesagt: »Ich will zusammen mit Rußland an einer neuen Architektur, einer neuen Konfiguration des Raketenabwehrsystems arbeiten.«
Sollte die Zeit bis zum 5. Dezember aus anderen Gründen zu knapp werden, bestünde immer noch die Möglichkeit, zunächst SALT I nach Artikel XVII des Abkommens um fünf Jahre zu verlängern. Im Hinblick auf die für 2010 anstehende Atomwaffensperrvertrags-Überprüfungskonferenz wäre das jedoch, so steht zu befürchten, nicht einmal die zweitbeste Lösung.