Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 20. Juli 2009, Heft 15

Wanderarbeiter

von Dorit Lehrack, z. Z. Peking

Ich bin ein kleiner Vogel … ich möchte hoch in den Himmel fliegen …« Der Mann, der diese Worte ausspricht, sieht nicht gerade wie ein Romantiker aus: Eine kräftige Gestalt, derbe Hände, den runden Kopf schmückt eine Glatze, lustige braune Augen, die immer zu lächeln scheinen. Der Mann ist Wei Wei – ein ehemaliger Wanderarbeiter, der vor dreizehn Jahren seine Heimatstadt in der zentralchinesischen Provinz Henan verlassen hat, um – wie Millionen seiner Landsleute – das Glück in der großen Stadt Peking machen. Dabei mußte er all die schlimmen Erfahrungen machen, denen sich Wanderarbeiter ausgesetzt sehen und die ohne Hilfe von Verwandten kaum zu bewältigen sind. Vier Jahre später, am 1. Mai1 2000, gründete Wei Wei seine Hilfsorganisation, Xiao Xiao Niao, den »kleinen Vogel«.
Peking, wie auch Shanghai eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt, verdankt dieses Wachstum den Heerscharen mobiler Arbeiter, die für ein oder mehrere Jahre ihre Heimatdörfer verlassen, um als Maurer, Straßenbauarbeiter oder aber Kellnerinnen ihren kleinen Reichtum zu erwirtschaften, der irgendwann dafür ausreichen soll, eine Familie zu gründen oder zumindest die Eltern zu Hause zu ernähren. An Höhenflüge glaubt keiner der Wanderarbeiter. Sie sind die ersten, die ihren Job verlieren, wenn es den Unternehmen schlecht geht – und im Zeichen der globalen Finanzkrise geht es auch asiatischen Unternehmen schlecht. Sie können keinen festen Wohnsitz anmelden, da die Stadt dafür die Wohnberechtigung nicht bescheinigt, Kinder der Wanderarbeiter haben kaum Zugang zu den öffentlichen Schulen, ärztliche Versorgung gibt es, wenn überhaupt, nur auf dem untersten Niveau. Schlimmer als die zeitweiligen schlechten Lebensumstände ist die Rechtlosigkeit dieser großen, dennoch marginalisierten Gruppe. Zwar haben Regierung und Partei längst erkannt, daß man die Lebensbedingungen der umherziehenden Millionen verbessern muß, entsprechende Gesetze und Verordnungen werden erlassen – aber wie so oft im großen Land kümmert das niemanden so recht, weder die Unternehmer noch die Behörden. Die Unzufriedenheit der Wanderarbeiter wächst – ein Pulverfaß, das, falls es explodiert, nicht nur die Wirtschaft empfindlich treffen würde, sondern auch die politische Stabilität.
So akzeptiert der Staat etwas widerwillig die vielen Initiativen »von unten«, die eine Lobby für die Betroffenen bilden, deren Rechte und Interessen artikulieren und auch juristisch vertreten, Rat und Hilfe anbieten, und überwacht deren Arbeit argwöhnisch.
»Nachdem ich selbst so viele frustrierende Erfahrungen gemacht habe, habe ich überlegt, was ich ändern kann,« erzählt Wei Wei Studenten der Pekinger Universität. »So entstand die Idee, meine eigene Organisation zu gründen, die zuallererst als ein Zentrum gedacht war, in dem Wanderarbeiter zusammenkommen, wichtige Informationen erhalten und austauschen, in Notfällen Hilfe erhalten.« Der Start war schwierig. Wie alle kleinen NRO vom ständigen Geldmangel geplagt und selbst in einer äußerst labilen rechtlichen Situation – Xiao Xiao Niao hatte keine staatliche Registrierung, Vierzehn Mal mußte die Organisation umziehen, keiner der Mitarbeiter erhält ein für das Leben ausreichendes Gehalt. Ohne die Unterstützung einer wachsenden Zahl von Sympathisanten, darunter viele Rechtsanwälte, hätte der »kleine Vogel« nicht überlebt. Heute ist die Organisation eine der bekanntesten und effektivsten im ganzen Lande. Ihr Spektrum umfaßt Berufsberatung, Rechtsberatung und -hilfe und weitere Angebote. Zirka 100 000 Anrufe sind bei der Hotline der Organisation eingegangen, zirka 10 000 Menschen erhielten persönliche Hilfe. Xiao Xiao Niao ist erfolgreich, und nicht selten wird Wei Wei aufgefordert, statt der kostenlosen Beratung eine profitorientierte Agentur aufzubauen. Wei Weis Antwort ist stets dieselbe: »Seit vielen Jahren versuche ich, meinen Traum zu leben, unterprivilegierten Gruppen dabei zu helfen, Zugang zu kostenlosem öffentlichen Service zu bekommen, und zwar trotz der Tatsache, daß heute jede Art von Service mehr und mehr kostet. Ich werde meine Organisation nie aus Profitgründen betreiben. Und zum Glück gibt es mehr und mehr Menschen, die mir helfen und uns auch finanziell unterstützen.«
Wei Wei träumt nicht nur, sondern er handelt: Seine vielen Mitarbeiter und Helfer bekommen ein gutes Training, um ihre Arbeit immer besser erledigen zu können, und die meisten bleiben … Das beste an Xiao Xiao Niao sind meine kompetenten und motivierten Mitarbeiter, sagt Wei Wei, und lädt alle zum Teetrinken ein.