Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 6. Juli 2009, Heft 14

Calvin und die Folgen

von Hermann-Peter Eberlein

Ais Kind und als Jugendlicher haben mich die Helden- und Märtyrergeschichten der Reformation fasziniert: die Hussitenkriege, Zwinglis Untergang auf dem Schlachtfeld von Kappel, die Bartholomäusnacht, die standhafte Hugenottin Marie Durand in der Tour de Constance von Aigues Mortes, wo sie an der Wand das eine Wort resister – widerstehen – hinterläßt, schließlich Jean Calas, den Voltaire rehabilitiert. Conrad Ferdinand Meyer hat dieses Pathos eingefangen im Jürg Jenatsch und in der Ballade Die Füße im Feuer: Fester Identifikationspunkt hinter allem als feste Burg der Aufrechten, als Hort der reinen, der unverfälschten Lehre: Genf, das protestantische Rom, die Stadt Calvins.
Calvins Geburtstag jährt sich am 10. Juli zum fünfhundertsten Mal. Die evangelischen Kirchen erinnern an ihn, es gibt Symposien und die große Ausstellung zum Calvinismus im Deutschen Historischen Museum. Doch Enthusiasmus mag sich nicht einstellen. Zu zwiespältig ist das Bild Calvins in der Geschichte, zu zwiespältig auch stehen wir zu den Folgen, die sein Wirken für die Welt gehabt haben. Die Zeiten des Heldenpathos sind vorbei – auch bei mir.
Luther und die Reformatoren der ersten Generation hatten die alte Kirche zu reformieren, zu verändern, zu befreien versucht. Organisatorische Fragen spielten eine untergeordnete Rolle – in der Regel traten an die Stelle der Bischöfe nun die Fürsten oder Magistrate. Calvin baute de facto eine neue Kirche und wappnete sie in ihrem Kampf gegen die alte und ihre Machtmittel durch eine straffe und zugleich flexible autonome Struktur. Zudem hat der Jurist Calvin die neue Lehre mit seiner Institutio christianae religionis systematisiert und so für Jahrhunderte einen Maßstab gesetzt. Calvin war der große Organisator des Protestantismus, ohne den es – abgesehen von Skandinavien und Teilen Norddeutschlands – die Kirchen der Reformation in Europa und Nordamerika so nicht gäbe. Zweifellos auch war der Calvinismus des 17. und frühen 18. Jahrhunderts moderner, sozial, wirtschaftlich und auch politisch fortschrittlicher als das in seinem selbstgewählten Gefängnis von Bekenntnisschriften und Verbalinspirationslehre vor sich hin dümpelnde Luthertum. Bis in unsere Zeit gehen von reformierten Kirchen immer wieder Impulse zum politischen Befreiungskampf aus – man denke nur an die Rolle reformierter Synoden im deutschen Kirchenkampf ab 1933 oder an die von Lazlo Tökés in Temeswar 1989. Die These Max Webers von der Kohärenz von Calvinismus und Kapitalismus ist so platt, wie sie oft verstanden wurde, sicher nicht haltbar – Calvin hat deutlich Kritik am Kapitalismus geübt. Die prägnantesten kirchlichen Bekenntnisse gegen Atomrüstung und Apartheid, die schärfste kirchliche Kritik an wirtschaftlicher Globalisierung und Militarisierung des Denkens stammen von Theolog(inn)en mit reformiert geprägtem Hintergrund.
Das ist die eine Seite. Die andere heißt: absolute Unterordnung unter das göttliche Gesetz. An Francoise Perrin – und in ihr an die sogenannten Libertins, die die strenge Sittenzucht, die Calvin in Genf eingeführt hat, ablehnten – schrieb Calvin unmißverständlich: »Ihr müßt euch eine Stadt gründen, in der ihr unter euresgleichen leben könnt, wenn ihr euch hier nicht zusammen mit uns unter das Joch Christi neigen wollt. Solange ihr aber in Genf weilt, bemüht ihr euch umsonst darum, dem Gesetz nicht zu folgen.« Je länger je mehr verwandelte sich Genf in ein totalitäres Gemeinwesen. Prunkvolle Hochzeiten und Tanzvergnügen wurden verboten, ins Familienleben wurde hineinregiert, das Privatleben ausspioniert. Humanistische Stimmen wie die des Rektors Castellio wurden mundtot gemacht, der Arzt Hieronymus Bolsec verbannt, angebliche Hexer wurden auf besondere Intervention Calvins gefoltert, der Antitrinitarier Servet verbrannt. Calvins Gedanke der Gleichheit, so modern er anmutet, hat mit der égalité der Revolution nichts gemein: Die Aufklärer und Ideologen der Revolution dachten vom autonomen Individuum aus, Calvin dachte theonom: von der allumfassenden Herrschaft Gottes über das gesamte menschliche Leben und die gesamte Gesellschaft aus.
Calvins Kirche ist vom Ansatz her totalitär. Vielleicht haben reformierte Theologen im Laufe der Jahrhunderte gerade darum politisch totalitären Systemen besser widerstehen können als viele Lutheraner, weil sie selbst unter einem Totalanspruch standen. Das ist ehrenwert und macht ihren Ruhm aus, ändert aber nichts daran, daß die Denkform dieselbe ist. Vielleicht ist Totalitarismus das Schicksal aller, die gegen Widerstände eine neue Gesellschaft etablieren und ihren Bestand sichern wollen. Calvin jedenfalls hätte in all den Fällen, die wir ihm heute ankreiden, auch anders gekonnt – die humanistischen Geister der Zeit legen davon Zeugnis ab. Seine Kirche wäre nicht so monolithisch, so kraftvoll dagestanden, hätte den europäischen Protestantismus nicht einigen können, hätte vielleicht nicht einmal überlebt. Aber sie wäre menschlich geblieben.
Heldenverehrung also ist in der Tat nicht angesagt zum Calvin-Jubiläum. Und meine Lieblingslektüre bei Conrad Ferdinand Meyer ist nicht mehr der Jenatsch, sondern die wunderschöne kleine Novelle Plautus im Nonnenkloster, in der der Humanist Poggio Bracciolini voll lächelnder Skepsis die absoluten Wahrheiten und die Totalansprüche an den Menschen relativistisch verabschiedet.

Noch bis 19. Juli 2009: »Calvinismus Die Reformierten in Deutschland und Europa« eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin