Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 22. Juni 2009, Heft 13

Der Mai ist zu Ende

von Günther Drommer

Am 4. Mai dieses Jahres waren wir bei unseren Freunden in Langedijk, Noord-Holland. Für den späten Nachmittag hatten sie gefragt, ob wir vielleicht anläßlich des Tages der Befreiung zu einer Feierstunde ins Gemeindehaus mitkommen wollten. Das taten wir. Der Bürgermeister hielt eine kleine Rede zum Thema »Freiheit und Identität«, dann zogen alle zum nahegelegenen Denkmal für den Widerstand gegen die deutsche Besetzung, die dort am 5. Mai 1945 zu Ende gegangen war. Vierzehn Tage zuvor, am 17. April 1945, hatte die Wehrmacht das mehrere Meter unter dem Meeresspiegel liegende Polderland Wieringermeer durch eine terroristische Sprengung der Seedeiche unter Wasser gesetzt. Sämtliche Straßen und tausende Häuser wurden mutwillig und bis auf die Grundmauern zerstört. Daran dachten sicher die meisten, als die örtliche Feuerwehrkapelle die niederländische Nationalhymne spielte – die älteste der Welt und eine der würdevollsten.
Für danach lud der Bürgermeister zu Kaffee und selbstgebackenem Kuchen ein. Er hatte inzwischen von uns gehört, kam an unseren Tisch und bedauerte, uns zu Beginn seiner Rede nicht persönlich begrüßt zu haben. Wir seien die ersten Deutschen, die jemals den Weg in diese traditionelle Feierstunde gefunden hätten.
Geschweige denn, daß irgendeine deutsche Regierung jemals Worte der Entschuldigung gegenüber dem Nachbarvolk gefunden habe. Der Bürgermeister gehört übrigens der CDA an, der stärksten Partei in den Niederlanden und unserer CDU vergleichbar.
Am 6. Mai waren wir wieder zu Hause, am 8. gingen wir zum nahe unserer Wohnung gelegenen Mahnmal in den Treptower Park. Dort waren viele in Berlin lebende Russen und wenige Deutsche unter sich.
Am 14. Mai bin ich mit einem Spielzeugzoo aus 135 Tieren, den ich für etwas mehr als 500 Euro vor allem mit Spendengeldern meiner Freunde gekauft hatte, nach Distomo, Griechenland, gefahren. Der Ort aus klassischer Zeit liegt nahe bei Delphi, schon sechshundert Jahre vor Christi Geburt monatlicher Treffpunkt tausender friedlicher Menschen aus den verschiedensten griechischen Städte und Provinzen. Auf die Idee zu unserem kollektiven Geschenk für den dortigen Kindergarten war ich gekommen, weil kürzlich unser Bundesverfassungsgericht das SS-Massaker am 10. Juni-I944 in Distomo als »kriegsbedingt« und deshalb nicht entschädigungsfähig eingestuft hatte. 232 vollkommen unschuldige Zivilisten sind damals mit Knüppeln erschlagen, von Bajonetten aufgeschlitzt worden. Das jüngste Opfer ein Jahr alt, das älteste 87, unter ihnen auch ganze Familien, Vater, Mutter, drei Kinder (zwei, fünf, acht). Wie die Mordbuben nach ihrer Tat in den Fotoapparat ihres Kumpanen grinsen! Wer in Deutschland schämt sich heute wenigstens für das Wort »kriegsbedingt«?
Am 1. Juni, früher einmal Tag des Kindes, machten wir eine Pfingstausfahrt. Auf dem Weg von Genthin nach Havelberg fiel uns am linken Straßenrand ein Denkmal auf. 1965, in den Zeiten des sogenannten verordneten Antifaschismus errichtet, gedenkt es jener 700 Frauen aus Ravensbrück, Ausländerinnen und Deutsche, die hier zu tödlicher Zwangsarbeit unter KZ-Bedingungen gezwungen worden waren. Sie hatten Fliegermunition herzustellen, mit der dann – im übertragenen Sinne – ihre eigenen Männer erschossen wurden.
An diesem zweiten Pfingstfeiertag war ein sehr alter Mann damit beschäftigt, die im dichten Wald schon fast verschwundenen Grundmauern der Häftlingsbaracken mit Hacke und Rechen erkennbar zu halten. Der Mann war allein bei der Arbeit, niemand half ihm. Er heißt Klaus Börner und ist 75 Jahre alt. Ihm sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Auf seine Initiative hin wurde neben dem Mahnmal eine Informationssäule aufgestellt. An weiterführenden Informationen ist die Stadt Genthin kaum interessiert, obwohl sie doch damals, trotz dieser für den Krieg äußerst wichtigen Fabrik in ihrer unmittelbaren Nähe, von einem angloamerikanischen Flächenbombardement verschont blieb. Und die Jugendlichen in der Stadt? Wer ist bereit, Klaus Börner zur Hand zu gehen? Diejenigen, die in den Dörfern der Umgebung Europawahl-Plakate gegen die angebliche »Islamisierung« ihres Doitschlands aufgehängt haben, werden es bestimmt nicht tun.
Kein Mensch bestreitet, daß am Ende des Krieges junge und ältere Nazis ziemlich gleichmäßig über ganz Deutschland verteilt waren – abgesehen von den Militärs, SS-Führern, Beamten und Richtern, die ihrerseits hofften, in den Zonen der West-Alliierten besser davonzukommen als unter den Russen.
Vielleicht war, von der heutigen politischen Situation her gesehen, ein bißchen verordneter Antifaschismus im Osten doch besser als diese westliche Stammtischseligkeit im gemeinsamen, von Zeitungen, Büchern und einseitigen Reden unterstützten Gedenken an eine »große vergangene Zeit der Pflichterfüllung und Tapferkeit«.
Wenn ich den Herrn Ministerpräsidenten von Bayern im Trachtenjankerl zum antiquierten Musikantenstadl seiner sudetendeutschen Heimatvertriebenen reden höre, denk ich mir: Wenn er doch wenigstens einmal in aller Deutlichkeit im Deutschen Fernsehen sagen würde, was in der Tschechoslowakei unmittelbar vor dem deutschen Einmarsch gewesen ist, wer den Krieg, von dem alles Spätere nur die Folge war, begonnen und die anderen Völker überfallen hat und warum. Und: Solange diese Nachbarvölker uns gegenüber nicht nachdrücklicher einfordern, was sie wohl erwarten dürfen, scheint die Zeit deutsch-überheblichen Selbstmitleids und kollektiver Schuldzuweisung leider nicht vorüber zu sein.
Anläßlich des Treffens der Sudetendeutschen während des Festes der Entsendung des Heiligen Geistes unter die Menschen möchte ich zum Thema der wie stets ziemlich kaltschnäuzig wirkenden Erika Steinbach (was heißen soll, sie habe die Absicht, ihr Ding durchzuziehen, komme, was da wolle) nur sagen: Ich bin in Thüringen geboren und lebe seit vierzig Jahren ununterbrochen in Berlin. Glücklich. Oder anders herum: Ich hatte einen Onkel. Als der 1943 schuldig-unschuldig in Stalingrad sein Leben verlor, war ich zweieinhalb. Nach allem, was mir meine Großmutter und meine Mutter später über ihn erzählt haben, hätte ich mich mit ihm und meinem kriegskranken Vater – für den Lohn ihres Weiterlebens – aus Thüringen weg bis ans Ende der Welt vertreiben lassen.