Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 25. Mai 2009, Heft 11

Das Casino läuft weiter

von Albrecht Müller

Am 17. April gab es in der Sendung »Nachtcafé« des Südwestrundfunks eine aufschlußreiche Begegnung. Anja Kohl, bekannt von »Börse im Ersten«, verwahrte sich mit bebender Stimme gegen die Vorstellung, man käme ohne Börse aus und vor allem ohne Anleger. Eine Welt ohne Anleger an den Aktienmärkten, eine Welt ohne das spekulative Auf und Ab der Finanzbörsen – das ist für manche offenbar eine existenzbedrohende Vorstellung. Dabei wäre ein funktionierender Finanzmarkt auch ohne seinen spekulativen Teil durchaus vorstellbar.
Daß diese Vorstellung Anja Kohl erschreckt, das kann ich verstehen. Denn sie und ihre Kolleginnen und Kollegen und ein Rattenschwanz von Börsianern, Bankern, Journalisten leben und profitieren unmittelbar vom Auf und Ab der Börsen. Deshalb machen sie weiter wie bisher.
Jeden Tag und jeden Abend beglücken sie uns zur besten Sendezeit mit Börsenmeldungen. Es sind aber nur knapp über fünf Prozent der Deutschen Aktienbesitzer, mit fallender Tendenz. Man könnte ohne Schaden die Berichterstattung über die Börsen einstellen. Wer spekulieren will, informiert sich im Internet oder bei seiner Bank. Warum das öffentliche Tamtam?
Es wäre nicht schlecht, liebe Leserinnen und Leser, wenn Sie bei den von Ihnen gesehenen Programmen und Sendern einmal anfragen würden, was die unendlichen Börsensendungen eigentlich sollen. Das nutzt nur der Fortsetzung des Casinobetriebs, weil mit Hilfe dieser Fernsehöffentlichkeit Stimmung gemacht wird, meist mit der Tendenz nach oben. Wir sollten darauf drängen, daß zumindest bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten die Börsensendungen abgeschaltet werden und – zum Beispiel – durch Berichte von Betrieben mit all ihren realen Sorgen ersetzt werden.
Das Casino läuft weiter auch in der Beratungsarbeit der Banken. Sie verkaufen weiterhin riskante Produkte. Das Casino läuft weiter im sogenannten Investmentbanking. Nach wie vor wird mit aller Gewalt versucht, Fusionen, Umgruppierungen und Übernahmen zu organisieren. So war das bei Conti und Schaeffler, so ist das bei VW und Porsche. Es sind volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich betrachtet sinnlose Vermögenstransaktionen. Der Börsengang von Unternehmen wird immer noch als etwas Sinnvolles betrachtet. Warum denn? Was soll der Sinn sein? Warum strebt auch der neue Chef der Bahn weiter den Börsengang an? Offenbar soll er Futter für die Haie auf dem Kapitalmarkt zur Verfügung stellen.
An den Börsen gibt es teilweise schon wieder euphorische Stimmungen. Weil es gelegentlich schon wieder aufwärtsgeht. Und weil die Bewegung an den Börsen Geld bringt. Dabei wird völlig übersehen, daß es für einen Außenstehenden, fur einen Nichtanleger, völlig irrelevant ist, ob ein Kurs sinkt oder steigt. Auch Insider freuen sich über steigende Kurse nur, wenn sie Aktien besitzen.
Wenn sie anlegen wollen, dann müßten sie eigentlich sinkende Kurse gut finden. Nicht einmal diese rationale Erwägung spielt bei den schon wieder beginnenden euphorischen Einlassungen der Börsenbeobachter, der Analysten und Medienmacher vom Schlage Anja Kohls eine Rolle. Sie wissen aber vermutlich, warum sie steigende Kurse gut finden: Das lockt wieder neue Lämmer an. Und wenn das so ist, dann finden auch all die Börsenberichterstatter, Broker, Analysten und Börsianer insgesamt wieder genügend Möglichkeiten, Provisionen, Honorare, Boni und andere Vergütungen einzustreichen.
Nicht nur bei uns, auch in anderen Ländern, zum Beispiel in den USA, gibt es wieder erste Euphorien. Arianna Hufington, die Herausgeberin der Huffington Post, hat dazu am 11. Mai einen interessanten Essay geschrieben: »Wall Street, DC, and the New Financial Euphoria«. Sie beklagt in diesem sehr lesenswerten Text – leider nur auf englisch zu haben –, daß eine wirkliche Reform des Finanzsystems immer unwahrscheinlicher werde. Ende 2008 sei die Finanzwirtschaft ziemlich verängstigt gewesen angesichts der Erwartung einer ernsthaften Reform. Aber dann kam alles anders. Das System wurde mit Billionen Dollars gerettet, ohne daß die Regierung die notwendigen Kontrollen und Regeln einsetzte. Huffington skizziert die Lobbyarbeit der Wall Street. Sie haben gewonnen, auch über ihren Einfluß auf eine ausreichend große Zahl von Demokraten bei den entscheidenden Abstimmungen.
Arianna Huffington weist auch darauf hin, daß man mit den Mitteln, die in unglaublichen Dimensionen in das Bankensystem gepumpt worden sind, um vieles sinnvollere Investitionen in die Infrastruktur, in das Gesundheitssystem, in neue Jobs und in eine Verbesserung der Bildungseinrichtungen hätte tätigen können. Sie zitiert Bob Herbert dem Sinne nach: Erzähle mir nichts über die Börsen, erzähl mir nichts über die Banken »and their perpetual flimflammery«, sag’ mir, ob Arme und Familien mit mittleren Einkommen Arbeit finden. Wenn sie das nicht schaffen, dann ist das Land »in trouble«.
Diese Betrachtungsweise unserer Probleme täte auch unserem Land gut. Dann würden wir schnell herausfinden, daß wir auf einen beträchtlichen Teil der Finanzwirtschaft verzichten könnten, ohne etwas zu verlieren. Würden wir etwas vermissen, wenn es Anja Kohl bei der ARD nicht mehr gäbe?
Den Verzicht auf Spekulationsgeschäfte und Derivate möglich zu machen, hat die Finanzwirtschaft bisher mit allen Mitteln und erfolgreich zu verhindern versucht. Es geht weiter wie bisher und kräftig geschmiert mit öffentlichen Mitteln.
Der jüngst beschlossene Plan zur Ausgliederung von »üblen Banken« ist ein weiterer Beleg dafür. Die Behauptung des Bundesfinanzministers, dieses Projekt ginge nicht unbedingt zu Lasten des Steuerzahlers, kann man durch den Kamin jagen. Man muß sich nur einmal anschauen, wie bei der HRE die Beträge zur Unterstützung in knappen Abständen erhöht worden sind. Innerhalb eines knappen halben Jahres von Null auf 112 Milliarden und inzwischen wahrscheinlich noch mehr.
Das »System« läuft weiter – mit all seinen Facetten, einschließlich Anja Kohl und ihren Kolleginnen und Kollegen, einschließlich Herrn Ackermann, einschließlich eines Bankenprüfsystems aus Bundesbank und Bafin, das bisher vornehmlich der Ablenkung und der Absegnung der besonderen Fütterung des Bankensystems dient, einschließlich des Handels mit Verbriefungen und einschließlich der besonderen Steuerforderung der sogenannten Heuschrecken.
Das System läuft weiter. Wenn man den Begriff System genauer begreift, dann versteht man auch, was mit »systemrelevant« und mit »systemisch« gemeint war. Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister haben diese Begriffe gern benutzt. Und wir, das Publikum, haben wohlwollend gemeint, unsere Oberen meinten damit das System der sozialen Marktwirtschaft. Sie meinten aber offensichtlich das System des existierenden Kapitalmarktes. Dieses System retten wir mit 480 und vermutlich noch viel mehr Milliarden. Wir retten ein überdimensioniertes System. Die wirklichen Leistungen des Kapitalmarktes, nämlich Sparer und Investierende zusammenzubringen, kann man mit sehr viel einfacheren Mitteln erbringen. Warum geschieht das Vernünftige nicht? Weil wir in den Fängen der Finanzindustrie sind …
Wenn wir in den vorigen Jahren so radikal formuliert haben, dann haben sicher manche unserer Leser den Kopf geschüttelt und wie so oft üblich Verschwörungstheorien vermutet. Ich kann nur wiederholen: Die Interessenverflechtungen kann sich ein Verschwörungstheoretiker kaum so ausdenken, wie sie sind.

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