Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 2. März 2009 , Heft 5

Ein Blick in die Büchse der Pandora

von Günther Drommer

Was ich am 18. Februar 2009 im Berliner »Literaturforum« im Brecht-Haus sagen wollte und wovon ich zwei Minuten nach Veranstaltungsbeginn wußte, daß ich es nicht würde sagen können:

Es wird behauptet, ich hätte in meiner Strittmatter-Biographie einerseits »die Problemstellen« in Strittmatters Kriegsjahren bewußt »überblendet«, andererseits würde ich den Dichter wissentlich ausgerechnet in der Uniform eines Militärpolizisten abbilden. Das erinnert mich an jenes berühmte Bild einer Partei- und Regierungsdelegation auf der Prager Burg, aus dem Alexander Dubcek zwar herausretuschiert, sein linker Schuh jedoch vergessen wurde.

In einem Bildband über die Weimarer Republik, den ich einst herausgab, habe ich zwei fast identische Fotos nebeneinander abgedruckt, jedes stammt aus einem anderen Archiv: Friedrich Ebert spricht am 9. November 1918 aus einem Fenster der Reichskanzlei in der Wilhelmstraße. Auf dem einen Bild liest man auf einem technisch schlecht hineinmanipulierten Transparent eine von Zuhörern hochgehaltene Losung: Freiheit, Gleichheit, Ordnung. Auf dem anderen Bild fehlt dieses Transparent.

Aus Brüderlichkeit wurde in der Lesart dessen, der die Ergänzung veranlaßte, Ordnung, und genau dieses Wort ist Ausdruck dieser halben bürgerlichen Revolution, die dann 1933 zur ganzen Konterrevolution wurde. In ihm stecken alle Massaker in Berlin, München, im Ruhrgebiet, die Freikorps und die SA und die SS und auch deren Gegner. Wie aus Ordnung Unordnung und aus Unordnung Tod wird.. In jeder Zeit liegt immer der Keim für eine oder mehrere andere Zeiten.

Nicht nur im Dienst an der historischen Wahrheit ist es gut und richtig, über das zu sprechen, was Strittmatters Anteil an der Gesamtschuld unseres Volkes am Zweiten Weltkrieg war. Die Welt hat sich mit uns auf einen Ausgangspunkt für diesen Krieg geeinigt, es ist nicht der 30. Januar 1933, sondern der 1. September 1939, der Tag des heimtückischen, durch nichts zu rechtfertigenden deutschen Überfalls auf Polen. Und über alles, was auf diesen 1. September folgte, ist immer erneut zu reden, ohne zu vergessen, was lange vorher bei uns geschah, als unsere Eltern und Großeltern Hitler dazu verhalfen, seinen Legalitätseid nicht brechen zu müssen.

Natürlich haben unsere Väter als junge Männer in Stalingrad Schreckliches überstanden, aber niemand aus der Fremde hat sie gebeten, dorthin zu gehen, und so haben wir uns alle in unserer Erinnerung zu schämen für jeden toten russischen Soldaten dort, auch wenn er vorher einen unserer eigenen Soldaten erschossen hat, für jeden toten Amerikaner während der Ardennenoffensive, wie für jeden gemeuchelten jugoslawischen Partisanen.

Denken wir doch aber auch darüber nach, wie dieser damals junge Mann Erwin Strittmatter, in der Hoffnung, einigermaßen glimpflich davonzukommen, gleich vielen künftigen Militärpolizisten bei einer Truppe landete, die als Ganzes gesehen, nicht lange danach zur Mördertruppe wurde. Welcher 27jährige hat 1940 nicht von Ehre, Pflicht und Vaterland gesprochen?

Bis heute existiert kein Beweis dafür, daß Strittmatter Mitglied der SS oder der Waffen-SS war, trotz einiger vorschneller Pressemeldungen. Ich halte es nach Rückfragen bei Historikern auch nicht für gesichert, daß jene Vormusterungskarte vom 15. April 1940 tatsächlicher Beweis für eine freiwillige Meldung zur SS ist, aus der nichts wurde, weil Strittmatter der geforderte hohe Grad »rassischer Qualifikation« fehlte.

Wie soll das politische Verhalten eines beliebigen jungen Mannes des Jahres 1940 zum Thema SS bewertet werden, als diese Organisation die meisten ihrer Verbrechen noch nicht begangen hatte und die begangenen geheimgehalten waren, und wenn jemand etwas wußte und es sagte, er im Konzentrationslager landete? Und der auch noch nicht die Shoah-Blume im Knopfloch trug, wie seine Enkel heute, die mit dem Stolz der Überzeugten kundtun, daß sie wenigstens das begriffen haben. Wie soll das Urteil über einen ausfallen, der ohne unser Wissen war über jene schneidige Truppe von damals? Ein Wissen, das noch heute längst nicht alle deutschen Mitbürger teilen wollen. Und was ist mit der Kristallnacht und den SA-Verbrechern zum Beispiel in ihren Berliner Vereinslokalen? Das konnten damals alle sehen, oder sie waren sogar beteiligt, auch Studienräte, Ärzte und Pastoren.

Bei Recherchen habe ich jenen Plan gefunden, nach dem Strittmatter von Mai bis August 1941 ausgebildet wurde. Wie mögen sich die nichtsahnenden Männer mit ihrer polizeispezifischen Ausbildung bei ihrem ersten Einsatz in Krakau-Podgorze oder in Slowenien gefühlt haben?

Während Strittmatter später mit dem Stab seines dritten Bataillons auf Naxos die Gelegenheit verstreichen ließ, sich in englische Kriegsgefangenschaft zu begeben, was leicht gegangen wäre – dreißig Jahre später holt er das im »Wundertäter« nach, wenn sich sein sinnliches Alter ego Stanislaus Büdner und sein geistiges, der Dichter Weißblatt, endlich einig sind –, während also diese Chance in Wirklichkeit vorüberging – vielleicht glaubte er ja damals noch an den Endsieg und fürchtete die persönlichen Folgen, damit war er auch nicht allein –, zur gleichen Zeit also tötete auf der Insel Kephalonia, 500 Kilometer weiter westlich, die Wehrmachtsdivision »Edelweiß« in einem Massaker mehr als zweitausend italienische Kriegsgefangene. Das war jene Division, an deren Traditionsverband Edmund Stoiber, der gerade ins kabarettistischen Gedenken entlassene bayerische Ministerpräsident, seine regelmäßigen Glückwunschadressen sandte.

Haben Strittmatter und sein drittes Bataillon des SS-Gebirgsjäger-Regiments 18 Glück gehabt, zum Beispiel etwas mehr als das erste Bataillon, das in Athen eingesetzt war bei der dortigen Judenvernichtung? Was wäre das für ein Glück?

Im Braunbuch der DDR von 1968 wird die Ordnungspolizei eine Sadistenhorde genannt. Es werden dazu 297 hohe und höchste Dienstgrade vorgeführt, von denen viele vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren vollkommen reibungslos und ohne Zwischenstationen in den gehobenen Polizeidienst der Bundesrepublik übernommen wurden. Allein die Dortmunder Staatsanwaltschaft ermittelte gegen insgesamt 25000 Beschuldigte, Anklage erhoben wurde in 159 Fällen, bestraft wurde niemand. Der Historiker Laurenz Demps protokolliert einen 1964 in Ostberlin akribisch geführten Prozeß gegen einen schuldigen Polizei-Unterführer. Der hat zwölf Jahre erhalten und abgesessen. Niemand hat bis jetzt behaupten können, Strittmatter sei in Verbrechen verwickelt gewesen, und auch in den geheimsten der geheimen Akten des Ministeriums für Staatssicherheit findet sich nichts in diesem Sinne Belastendes. In das Verbrechen Krieg allerdings war er verwickelt, wie alle Deutschen damals, die einen mehr, die anderen weniger.

Was sollen wir tun, da wir nun mehr wissen von dem, was wir schon seit langem wissen könnten. Die Namen Oradour und Lidice kennt im Osten jeder Zehntklässler meines Jahrgangs. Strittmatter, an dem dieses Wissen festgemacht werden soll, so, als wären wir alle ahnungslos, ist seit fünfzehn Jahren tot, er selbst kann zur Stellungnahme nicht mehr aufgefordert werden. Sollen wir seine Bücher vergessen, das könnte in der nächsten Generation schnell gehen, sollen wir sie wegwerfen, weil ihr Autor es nun nicht mehr verdient, gelesen zu werden?

Wir könnten sie auch und vor allem wegen ihres eindeutig antifaschistischen Gehalts neu lesen, gerade mit ihrer schweren Bürde, die wir nun an vielen Stellen aus ihnen herauslesen. Daraus würden wir etwas für uns selber lernen.

Noch folgen wir dem seit langem eingeschlagenen Weg und rücken die Schuld unserer Väter weiter und weiter von uns weg und versuchen, uns selbst so schuldfrei zu machen, daß nur die Unerschrockenheit, die Leidensfähigkeit und die Ritterlichkeit unserer Väter und Großväter übrigbleiben. Und ehe wir endlich ehrlich über sie und uns urteilen, schicken wir immer wieder ein paar Sündenböcke in die Wüste, um selbstgefällig an denen unsere eigene Menschlichkeit zu messen. Schriftsteller eignen sich besonders gut dazu. Und die Missetaten der anderen, der Feinde im Krieg, auch. Schuldige Nazi-Generäle scheinen sich weniger zu eignen.

Warum ist der Film »Geh und sieh« von Elem Klimow ein russischer Film und kein deutscher? Warum sind mit dem aktuellen amerikanischen Stauffenberg-Film die Ereignisse des 20. Juli hoch, vielleicht zu hoch gewürdigt, die paar überlebenden deutschen Deserteure jedoch bleiben vor dem Gesetz noch immer geächtete Vaterlandsverräter, die die Truppe in ihrem schweren Kampf im Stich gelassen hätten, wie nicht nur an deutschtümelnden Stammtischen jeden Tag zu hören ist. Wer braucht und warum die Filme über Hitlers letzte Momente im Bunker und den Untergang der Gustloff? Was haben wir seit Wickis »Brücke« und Carows »Sie nannten ihn Amigo« über den Krieg zu berichten, und wie tun wir es?

Der wirkliche Sinngehalt des Experiments mit dem anderen Staat hat nirgendwo Freunde gehabt, weder im Truman-Adenauerschen Westen noch im Stalin-Ulbrichtschen Osten. Das ist das Traurige an diesem Untergang. Jetzt soll wieder ein bedeutender deutscher Schriftsteller entlarvt werden, der zu weit im Osten lebte. Es ist nicht der erste, aber fast schon der letzte.

Wo entlang führt denn nun der Weg in unser aller Zukunft mit gleichen Rechten und gleichen Chancen für alle, angesichts des bedenklichen Zustandes des Planeten? Und wie soll diese Zukunft aussehen? Wie die gewesene DDR nicht, das wissen wir, und das ist schon viel. Oder wartet vielleicht gar nichts mehr auf uns?

Manche haben ohne propagandistischen Hintersinn darüber nachgedacht. Auch Strittmatter.

Der unbeantworteten Fragen sind viele, wenn nur die absichtsvolle Totschlag-Argumentation in den eigensüchtigen Antworten der unerträglichen Pächter der Wahrheit von heute endlich aufhören würde.

»Die Philologie hat an ihren Seziertischen vergessen, womit sie sich eigentlich beschäftigt. Literatur liefert nicht abstrakte Themen zu, sie erzählt Geschichten von lebendigen Menschen.« Dieses Zitat könnte eine Grundlage bilden, auf der durchaus etwas entspannter zu reden wäre, auch über das Thema von Schuld und Unschuld, welches das ganze deutsche Volk seit langem und noch für lange betrifft. Das Zitat stammt aus dem schönen Buch über Goethes Dr. Riemer und ist von Werner Liersch.

Den folgenden Teil meiner kleinen Rede habe ich, als Diskussionsbeitrag getarnt, unter den Augen eines sichtlich mürrischen Gesprächsleiters halten können: Um nicht nur zu reden und am Schreibtisch den quälenden Versuch zu unternehmen, das Schwere aufzuschreiben, möchte ich für den Kindergarten in Distómo einen kleinen Spielzeug-Zoo kaufen. Man kennt dort, wie in der ganzen Welt, die schöne deutsche Bezeichnung Kindergarten, die einst Friedrich Fröbel gefunden hatte. Ich tue das deshalb, weil der 1944 von einem SS-Mann mit dem Bajonett aufgeschlitzte kleine Nico in meinem Alter war und einen Zoo niemals gesehen hat. Kriegsbedingt sei die Tat gewesen, heißt es im Urteil des Obersten Gerichtes unserer Bundesrepublik von Ende 2008 – zur Begründung der fortdauernden Zurückweisung einer Entschädigungszahlung an die Angehörigen der Opfer, die selber Opfer sind.

Ich habe mich mit einem der Überlebenden von damals, Agyris Sfounduris, abgesprochen, und die Kinder erwarten ihr Geschenk. Wenn nun jemand von Ihnen etwas beisteuern möchte, zehn Euro sind ein Tier, der Elefant ein wenig mehr, die Gazelle etwas weniger, so bitte ich hiermit herzlich darum.

PS: 1. Am Schluß gelang es mir, einen Diskutanten, dessen historischer Verstand im umgekehrten Verhältnis zu seiner großen Mundwerk zu stehen schien, wenigstens mit meiner Frage, wer denn nun eigentlich die zwanzig Millionen Russen im Zweiten Weltkrieg getötet habe, für einen kurzen Moment stumm zu machen.

2. Für den Zoo für Distómo hat niemand von den rund hundert Anwesenden einen Cent gespendet.

3. Am Wochenende vor dieser Veranstaltung hat Dresden die größte deutsche rechtsradikale Demonstration der Nachkriegszeit gesehen. Die Presse meldet stolz, daß es der Polizei gelang, rechte und linke Demonstranten auseinanderzuhalten. Noch sind die Linken zur Gegendemonstration bereit, auch auf die Gefahr hin, daß ihnen hinterher der Schädel eingeschlagen wird. Wenn nicht mehr, was dann? Der Faschismus siegt auf der Straße.