Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 2. März 2009 , Heft 5

Angst

von Wolfgang Schwarz

Der sowjetisch-russische Schriftsteller Daniil Granin begann seine 1999 auf Deutsch erschienenen Erinnerungen mit den Worten: »Dies sind Aufzeichnungen über die Angst. Die ANGST, die einen so großen Raum in meinem Leben einnahm, die so wunderbare geistige Impulse in meiner Generation erstickte, unsere Charaktere verbog, uns kraftlos machte und so bittere Erinnerungen hinterließ … Ich meine nicht die normalen alltäglichen Ängste um Freunde und Verwandte, um die Arbeit. Sie gehören zu jedem Leben. Mir geht es um jene Ängste, die heute, noch Jahre später, Scham und Reue auslösen. Ängste, die ein Merkmal der Zeit waren, die die Schicksale von Millionen von Menschen zerstörten …«

Granin, Jahrgang 1919, verdeutlicht an seinem eigenen Lebensweg und an dem von Kollegen, Bekannten und Freunden, daß in der Sowjetunion seit den zwanziger Jahren, insbesondere aber mit dem Anschwellen der systematischen innenpolitischen Repressionen stalinscher Prägung in den dreißiger Jahren, die existentielle Angst zu einer Grundkonstante des Lebens breiter Bevölkerungskreise wurde. Eine Angst, in die Mühlen und Fänge eines allmächtigen Staates – konkret der Partei und der Geheimdienste – zu geraten, der mit einer für den einzelnen in seiner Logik nicht durchschaubaren Willkür agierte, und darin – für die Außenwelt oft spurlos – zu verschwinden oder erst nach Jahren im Gefängnis, im Arbeitslager und/oder in der Verbannung wieder aufzutauchen. Diese Angst, dafür liefern Granins nicht sehr umfangreiche Erinnerungen beeindruckende Beispiele, vergiftete das Leben mehrerer Generationen, und sie erhielt auch nach dem Ende der großen »Säuberungen« der dreißiger Jahre – die mit der massenhaften Ermordung von Menschen aus allen Schichten der sowjetischen Bevölkerung einhergingen – in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder neue Impulse durch die Art und Weise der Herrschaftsausübung im Lande.

Wie der Stalinsche Terror nach innen funktionierte, wer die Opfer, wer die Täten waren, wie die Lager im sowjetischen Gulag-System betrieben wurden – mindestens unter Inkaufnahme des massenhaften Todes der Inhaftierten –, das ist in Kunst und Wissenschaft mannigfach reflektiert und analysiert worden. Für die kritische Literatur zu diesem Themenkreis soll neben Granin nur stellvertretend auf Arthur Koestlers Roman Sonnenfinsternis, die Werke Alexander Solschenizyns, Anatoli Rybakows Tetralogie Die Kinder vom Arbat, die Kolyma-Erzählungen von Warlam Schalamow sowie auf jüngere historische Werke wie Stalin und seine Henker von Donald Rayfield verwiesen werden.

Dieser Publikationskanon ist jüngst durch eine weitere Facette in Gestalt von Orlando Figes’ Buch Die Flüsterer. Leben in Stalins Rußland erweitert und durch bisher kaum dokumentierte Aspekte bereichert worden. Der Autor untersucht, »wie Familien auf die Zwänge des Sowjetregimes reagierten«. Vor allem bewegt ihn die Frage: »Welche Überlebensstrategien, stillen Übereinkünfte, Lügen, Freundschaften und Treuebrüche, moralische Kompromisse und Anpassungsbemühungen prägten Millionen Leben?«

Figes erschloß dafür in mehrjähriger Arbeit mit einem Team von Mitarbeitern einerseits ein breites Spektrum an Materialien sowohl in den staatlichen Archiven Rußlands, soweit diese zugänglich waren, als auch in Sammlungen von Dokumenten Betroffener (Tagebücher, Briefwechsel …), die insbesondere nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von diversen gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen an verschiedenen Orten des Landes zusammengetragen wurden. Und andererseits befragten er und seine Mitarbeiter zahlreiche Zeitzeugen, überwiegend Opfer der Terrorzeit oder deren Angehörige.

Die große Fülle von belegten, detailreich geschilderten Familienschicksalen verleiht Orlandos Buch den Charakter einer Dokumentation zu Granins Erinnerungen und insbesondere den eines Belegs für Granins Fazit, daß die Stalin-Ära Millionen von Menschen um ihr Lebensglück gebracht hat.

Daß die überlebenden Opfer des Terrors, sobald sie entlassen waren, häufig alles daran setzten, sich in die Gesellschaft zu reintegrieren – gerade auch politisch –, ist ein Phänomen, dem Figes ebenfalls nachgeht, und die entsprechenden Passagen zählen zu den berührendsten des Buches. Und zu den beunruhigendsten zugleich, denn dieses Phänomen steht nicht zuletzt dafür, wie es Hans-Dieter Schütt kürzlich in einer Laudatio zu Heiner Müllers 80. Geburtstag formulierte, daß es »immer wieder … in der Geschichte (gelang), Menschen davon zu überzeugen, es gäbe, einer höheren Ethik zufolge, so etwas wie die Versittlichung des Mordens Klassenkampf genannt.«

Figes’ Untersuchung und Darstellung weist allerdings auch große Lücken auf. Die hat jedoch nicht der Autor zu verantworten, und sie werden womöglich nie zu schließen sein. Da nämlich, wo Figes seinem Hauptanliegen folgt, kann er dies natürlich nur unter Rückgriff auf vorhandene Dokumente und Zeitzeugen tun, und die stammen überwiegend aus der wissenschaftlichen, künstlerischen und administrativen Intelligenz beziehungsweise aus Kreisen, in denen zumindest die Tradition von schriftlichen Lebensäußerungen, Familienchroniken oder auch – wenngleich weniger systematisch – mündlichen Überlieferungen oft über Generationen gewachsen und auch unter schwierigsten Bedingungen nicht vollständig abgetötet werden konnten. Dazu zählten Fabrikarbeiter, Kolchosbauern, Krankenschwestern und Verkäuferinnen in der Regel nicht. Die übergroße Mehrheit der arbeitenden sowjetischen Bevölkerung spiegelt sich in Figes’ Buch daher nicht wider.

Apropos Zeitzeugen. Die sind, einem verbreiteten Bonmot der Branche zufolge, des Historikers größter Feind: wegen des zwangsläufig subjektiven Charakters ihrer Erinnerungen, Zeugnisse und Wertungen. Figes selbst thematisiert dieses Problem als ein grundsätzliches im Nachwort seines Buches und gibt einen knappen, aber informativen Überblick über seine methodologischen Ansätze, die damit verbundenen Klippen zu umschiffen. Wieweit ihm das gelungen ist, bleibt dem Urteil des Lesers anheimgestellt.

Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Rußland, Berlin Verlag 2008, 1036 Seiten, 34 Euro