Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 2. Februar 2009 , Heft 3

Links mal anders

von Heerke Hummel

Was seit geraumer Zeit an kritischer Gesellschaftsauseinandersetzung angeboten wird, ähnelt sich meist sehr. Gegeißelt wird vor allem ein räuberischer, von Gier getriebener Finanzmarktkapitalismus, der nun schon oft in allen seinen Erscheinungen beschrieben wurde und der in der Zukunft von etwas abgelöst werden soll, von dem niemand so recht weiß, wie es aussehen und funktionieren soll. Zumindest gehen die Ansichten darüber ziemlich stark auseinander. Man nennt es auf seiten der Linken gern »Sozialismus«, gelegentlich auch einen wahren, echten, demokratischen oder auch menschlichen. Über die jüngste Buchvorstellung Sahra Wagenknechts etwa war zu lesen, eines hätten alle Zuhörer mit nach Hause genommen: die Erkenntnis, daß der Finanzkapitalismus durch keinen Dompteur zu bändigen sei. Aber was, frage ich mich, soll denn sonst geschehen? Noch einmal Gehabtes? Aus dem sich sozialistisch verstehenden Norden Koreas erreichte uns zur gleichen Zeit die Nachricht, Staatschef Kim Jong Il, einst selbst vom Vater ins Amt gehoben, habe seinen 24jährigen Sohn Kim Jong Un zu seinem Nachfolger nominiert.

Dieser Sohn habe eine internationale Schule in der Schweiz besucht. Dies alles könnte man in bezug auf sozialistische Wege und Perspektiven ganz verschieden deuten. Streben wir nach einem himmlischen Ziel, oder sind wir auf dem Weg in eine Zukunft, von der wir nicht genau wissen, wie sie aussieht, die uns aber täglich herausfordert, Steine unterschiedlichster Art und Größe je nach Ort und Zeit, mitunter Felsen, wegzuräumen oder sie zu umgehen? Es dürfte sich also, was die Menschheit betrifft, nicht um einen, sondern um viele, ziemlich unterschiedliche Wege handeln.

Ulrich Scharfenorth, Jahrgang 1941 und in der DDR-Stahlindustrie einst Technologe, Forscher und Gutachter, verzichtet auf Systembenennungen, die den einen illusionieren, den anderen vielleicht schrecken könnten. Er legt eine umfassende Analyse dessen vor, was wir im weiteren Sinne als die Gesellschaft betrachten können, nämlich als eine Gemeinschaft in ihren wissenschaftlich-technischen, biologisch-medizinischen, bildungspolitischen, ökologischen, ökonomischen und sonstigen Erscheinungen beziehungsweise Existenzbedingungen. Für einen einzelnen ist das ein mutiges und sehr selbstbewußtes Unterfangen. Der Autor sieht das selbst so und beansprucht durchaus nicht die geistige Urheberschaft des immensen Analysematerials, das er gewissenhaft dokumentiert. Aber selbst dieses Zusammentragen und die Aufbereitung für das Allgemeinverständnis einer breiten Leserschaft verdienen Anerkennung.

Das Buch vermittelt nicht nur Wissen, sondern erzeugt durch die Vielfalt der Gesichtspunkte auch ein Gefühl für das, was wir oftmals so ganz lapidar als Vergesellschaftung der menschlichen Existenzweise bezeichnen. Und es vermag den, der logisch denkt, davon zu überzeugen, daß hier Kräfte wirken, die sich nicht durch Geld und Wertgesetz über den Markt von selbst regeln beziehungsweise einer Selbstregulierung überlassen werden können.

Wer beim Nachdenken über das Morgen so den Blick weitet, wird kaum ein »Modell« einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts entwerfen. Auch für Scharfenorth ist die Entwicklung offen. Was wie in fünfzig oder hundert Jahren sein wird, ist davon abhängig, was wir alle heute, morgen und übermorgen tun. Scharfenorth zeigt dafür Möglichkeiten auf – solche, die andere beschreiben, und solche, die er selbst für wahrscheinlich hält. Er reflektiert eine Menschheit, die künftig abstürzen, in großen Teilen dahinvegetieren oder – was er für wahrscheinlicher hält – gesunden kann. Seine Erwartungen entstammen weder eigenen Hochrechnungen, noch erheben sie Anspruch darauf, einer umfassenden wissenschaftlichen Evaluation zu genügen. Sie entspringen der Logik eines Betrachters, der lebt und weiterdenkt. Das ist viel, aber nicht zu viel versprechend, und es sollte hier als Leseanreiz genügen; dies auch deshalb, weil, wie uns ziemlich am Schluß mitgeteilt wird, »Zukunft störe«.

Damit wird denn schließlich auch ein Hinweis auf den sperrigen Buchtitel gegeben: Auch Politiker lehnten es vielfach ab, der Zukunft grundlegend nachzuspüren. Ernstzunehmende Wissenschaftler ließen sie vor der Tür, weil Tagesgeschäft und Wahlkämpfe wichtiger erschienen. Folglich seien die »Staatenlenker« über wichtige, weitreichende Trends schlecht informiert und für »schnelle Einflüsterungen« anfällig. Wenn man dann hinzunehme, daß Politiker, zum Beispiel Wirtschafts- und Finanzminister, zumeist Erfüllungsgehilfen/Galionsfiguren von Wirtschaft und Finanzwelt seien, lasse sich leicht ausmalen, wohin die Reise (zunächst) geht. Hatte der Autor bereits Einsicht in die Planungen für die Rettungsanker und Krisenschirme der Bundesregierung?

Ulrich Scharfenorth: Störfall Zukunft – Schlußfolgerungen für einen möglichen Anfang, Heiner Labonde Verlag, Grevenbroich 2008, 630 Seiten, 34 Euro