Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 16. Februar 2009 , Heft 4

Landschaft ohne Helden?

von Gerd Kurze

Am Anfang steht da ein Russe, Wattejacke, Ordensbrust, Oberst der Sowjetarmee, Schachtleiter – und er kann nicht richtig Russisch: Moi (!) Mama. »… mein Bruder, mein Vater, meine Großmutter« – eine Litanei, die Liste seiner Verwandten, von den Deutschen umgebracht. Doch der – bedauerliche, aber leider landestypische – Lapsus Linguae ist beinahe vergessen, wenn schließlich Peter Kurth als Hermann Fischer, 54, Obersteiger der Wismut, Kommunist seit 1921, versehrt, nämlich einarmig, seinen Schlußmonolog gesprochen hat: »Wann wird sie endlich da sein, die Landschaft ohne Helden?« – Kommunismus, Utopia, Elysium.

Achim Petras hat Werner Bräunigs (1934–1976) Magnum Opus Rummelplat« auf die Bühne des Maxim Gorki Theaters Berlin gebracht, den erst 2007, rund vier Jahrzehnte nach seinem Entstehen und Verbot, publizierten Roman über den »wilden Osten« im Süden des sowjetisch besetzten Teils von Deutschland. In Südsachsen schufen die Besatzer 1947 mit einer »Sowjetischen Aktiengesellschaft Wismut« im äußerst dringenden Bemühen um Rohstoff für ihre Atombombe einen Moloch, einen Staat im (späteren DDR-)Staate. Es galt das Kernwaffenmonopol der Amerikaner zu brechen, und der Uranbergbau am nördlichen Erzgebirgsrand hatte dafür das Material zu liefern – unter allen Umständen.

»Rummelplatz« = Wismut, kräftezehrende Maloche unter Tage, Knochen brechend, entnervend, eben darum nach Schichtschluß unbändig ausgetobter Lebenstrieb – Wodka bis zum Umfallen. Um das zu zeigen, hat Petras eine vielfältige Collage geschaffen: Grelle Illustrationen zu Bräunig-Zitaten oder auch Bräunigs berührende Texte zwischen kreischenden Gesängen und flimmernden Videos – so ganz entschieden ist es nicht. Doch der Titel schreit nach Trubel, Krach, Exzeß – eine Darstellung dieser dramatischen Geschichtsepisode wäre anders ganz und gar unglaubhaft.

Bayerische Schulklassen, die das derzeit politisch korrekte DDR-Bild angeblich verinnerlicht haben, sollten allesamt ins Theater geschickt werden. Zu Gesicht und Gehör bekämen sie ein farbiges Spektrum jenseits vom eintönigen »MauerStasiStacheldraht«-Dogma, und sie hätten sicher viel Spaß dabei. Auf einen Teil des Premierenpublikums schien die Inszenierung genau so zu wirken; der Blättchen-Kritiker zweifelte während wiederholter Lachsalven anfangs konsterniert an seinem Humor. Allerdings braucht Petras schon mal eine von vier Dreiviertelstunden, die das Stück währt, um die Personage einzuführen. Das zieht sich, und es wäre wohl auch langweilig geworden ohne komödiantische Einlagen: Britta Hammelsteins tragikomische Parodie eines aus späteren Jahren in die Nachkriegszeit gefallenen Pop-Songs ist schon Zwerchfell erschütternd, Peter Kurths Mineralogie-Monolog als rezitativer Kunstgesang grandios, Regine Zimmermanns sächsische Mundarteinlage allerdings rutscht über die schiefe Bühnenebene vom Clownesken in die Platitüde.

Mit Kurth als Obersteiger agieren Milan Peschel (als Professorensohn im Schacht, um – trotz seiner »bürgerlichen Herkunft« – einen Philologie-Studienplatz zu bekommen, schließlich aber Jugendbrigadier und Bergbaustudent), in mehreren Rollen: Michael Klammer (Nachkriegsganove, Alternative zur Wismut: Knast; jugendlicher Herzensbrecher), Regine Zimmermann (selbstbewußte Tochter vom Altkommunisten und Obersteiger, erkennt ihre Chance zur Emanzipation und ergreift sie + clownesker Wismut-Fahrer »Heidewitzka«), Ursula Werner (alter und neuer Betriebsleiter der Papierfabrik, bald ab in den Westen zum alten und neuen Eigentümer einer Papierfabrik + diverse Mütter), Britta Hammelstein (Liebe suchende Kellnerin + Fabrikarbeiterin ebenso), Christian Baus (frisch qualifizierter Antifa-Jungkader), Robert Kuchenbuch (unter anderem sowjetischer Schachtchef + Wismut-Hauer + technikversessener Intelligenzler) sowie Lena Trummer und Martin Otting.

Ein bühnengroßes graues Mundloch, der Einfahrt eines Autobahntunnels gleich, in den Zuschauerraum hinein reichende Rampe, hinten eine bewegliche Konstruktion, förderkorbähnlich, davor eine wippende Auffahrt zwischen anthrazitfarbenen Wänden – damit schaffte es Bühnen- und Kostümbildnerin Susanne Schuboth schon, einen Eindruck von den Umständen jenes Dreckdaseins zu vermitteln, das damals oben in Sachsen und darunter gelebt wurde. Dazwischen die Videos von Niklas Ritter: Selbst garniert mit Heidenlärm wie Untertage können sie die wirklichen Arbeitsbedingungen der Wismut-Schachtarbeiter kaum andeuten; wer sich etwa an die Wochenschau-Szenen von Adolf Henneckes Aktivisten-Schicht im benachbarten Steinkohle-Revier erinnert, könnte sie ja für sich »einspielen«. Die, vermutlich selbst nicht einmal völlig realistisch, zeigen krasser, wie hart das damals gewesen ist.

Einiges an Geschichtskenntnis ist nötig zum Verständnis all des aus früher DDR-Geschichte Vorgeführten. Bräunig schrieb seinen Roman für Zeitgenossen, die Leserschaft wäre voll der assoziativen Erinnerung gewesen – soweit sie über die »Agitation-und-Propaganda«-Medien hinaus informiert war. Die mögliche Brisanz seines Textes in der Entstehungszeit ist für die Nachgeborenen, heute sogar für Zeitzeugen des Damaligen schwer nachzuvollziehen. Außerdem: Ist doch alles schon so lange her! Und: Wen kümmert das denn noch? Warten wir’s ab – 2009 ist ja nicht nur ein 20. Jubiläums-Jahr, sondern es ist auch ein sechzigstes. Und wenn der Eindruck nicht täuscht, so geht mit dem Abwärts der aktuellen Bundesrepublik-Erscheinung ein Aufwärts des historischen, meint fair differenzierten, DDR-Geschichtsbildes einher. Petras Stück leistet dazu nicht Geringeres als: glaubhafte Helden in einem lebensprallen Sittenbild.

Übrigens: Richtig heißt es russisch »moja Mama«. Vielleicht begreift man in Deutschland irgendwann einmal, daß es sich neben dem Englischen und Französischen auch beim Russischen um die Sprache eines der für uns wichtigsten Partner im Ausland handelt, gleiches Bemühen darum also geboten ist.