Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 16. Februar 2009 , Heft 4

Helmut Hirsch

von Mario Keßler

Gegen Fremdenhaß und nationalistische Vorurteile, schrieb vor fünfzehn Jahren Lew Kopelew, helfe nur Aufklärung, vor allem durch wahrheitsgetreue Berichte über persönliche Schicksale. Exemplarisch nannte er die Autobiographie des Historikers Helmut Hirsch. Daß diesen bittere Erfahrung nicht verbittert habe, mache den Wert seiner Erinnerungen »Onkel Sams Hütte. Autobiographisches Garn eines Asylanten in den USA« (Leipziger Universitätsverlag, 1994) aus. Damit gerät ein in der Tat beispielhaftes Leben in den Blick.

Am 2. September 1907 wurde der Historiker und Schriftsteller Helmut Hirsch in Elberfeld in eine säkulare jüdische Familie hineingeboren. Sein Vater, ein Kaufmann, war Mitglied der SPD, der sich auch der junge Helmut anschloß. Ab 1928 studierte er in München, Berlin, Bonn und Leipzig Theaterwissenschaft, Zeitungskunde, Philosophie und Geschichte. Das letztere Fach wurde zur Passion seines Lebens. In Leipzig schrieb er seine Dissertation über Marx’ Jugendfreund Karl Friedrich Köppen. Verteidigen konnte er sie im Jahre 1933 nicht mehr. Erst 1988 holte die Leipziger Universität, die damals noch den Namen von Karl Marx trug, den Promotionsvorgang nach.

Das Naziregime trieb Helmut Hirsch sofort ins Exil. In seiner Autobiographie berichtete er über das harte Leben in Frankreich und den USA. In Paris schrieb er für verschiedene antifaschistische Zeitschriften. Er war Sekretär des Comité Juif d’Etudes Politiques, einer Hilfsorganisation. Bei Kriegsbeginn wurden er und seine Frau Eva interniert. Nach abenteuerlicher Flucht in den unbesetzten Teil Frankreichs gelang ihnen im Juni 1941 die Überfahrt in die USA.

Dort mußte Helmut Hirsch zunächst als Lagerarbeiter sein Brot verdienen, Eva arbeitete als Fitnesstrainerin. Daneben schrieb er 1945 an der University of Chicago eine zweite Dissertation zur Zeitgeschichte des Saargebietes. Sie erschien in veränderter Form als zweibändige Ausgabe 1952 und 1954 auf Deutsch. Nach der Promotion war Hirsch an der Gründung des Roosevelt Colleges in Chicago beteiligt. Dort war er zuerst Lehrbeauftragter, bis er eine Festanstellung als Associate Professor erhielt. Das Roosevelt College war in Opposition zu den Rassenschranken entstanden, die damals in den USA das Studium von Schwarzen an »weißen« Elite-Universitäten erschwerten, wenn nicht unmöglich machten.

Somit wandte sich der Hitler-Flüchtling auch in den USA gegen Nationalismus und Rassismus. Er nahm aktiven Anteil an der Bürgerrechtsbewegung, die sich für die Gleichberechtigung der Afroamerikaner einsetzte. Entschieden trat er auch der These von der Kollektivschuld aller Deutschen entgegen, die die für Hitlers Aufstieg wirklich Verantwortlichen entlastete. Hirsch war Mitautor eines dementsprechenden Appells an Präsident Harry Truman. Darin hieß es: »Wir sind nicht nur gegen rassistische Theorien, sondern auch gegen die Verantwortlichkeit eines ganzen Volkes. Überdies sind diejenigen Deutschen, die am meisten leiden, die ganz alten, die im allgemeinen den Nationalsozialismus ablehnten, und die sehr jungen, die keinen Anteil daran hatten. Und, abgesehen von der Berücksichtigung des menschlichen Leidens, darf wohl gefragt werden: Ist unsere gegenwärtige Politik geeignet, das deutsche Volk vom Wert demokratischer Wege zu überzeugen?«

Am Ende der fünfziger Jahre betrieb der Historiker seine Rückkehr nach Deutschland, blieb aber amerikanischer Staatsbürger. Der Bescheid des Düsseldorfer Regierungspräsidenten legte für Hirsch eine »Entschädigung« von insgesamt 29 Mark und 28 Pfennig fest. Dies entsprach dem Gegenwert zweier Fahrkarten Wuppertal-Paris im Jahre 1939. »Die Voraussetzungen für eine Entschädigung der Kosten der Weiterwanderung von Frankreich in die USA sind nach Auffassung der Entschädigungsbehörde nicht gegeben«, hieß es. Begründung: »Bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich im Jahre 1940 hat er [Hirsch] rund sieben Jahre Zeit gehabt zu einer Weiterwanderung in die USA. Aus diesem ergibt sich, daß er Paris als das Ziel seiner Auswanderung ansah.« Im »Rheinischen Merkur« hieß es damals, »daß diese lebensfremde Argumentation … auch noch als Verhöhnung wirken muß. Sie läßt vermuten, daß der Wiedergutmachungsbeamte des Düsseldorfer Regierungspräsidenten die ›Weiterwanderung‹ der deutschen Juden beim Einmarsch der Hitler-Truppen in Frankreich für eine private Lustreise hält, die sie besser unterlassen hätten, um den deutschen Nachkriegsbehörden die lästige Sorge mit der Wiedergutmachung zu ersparen.« Gelder für die Pensionen der Nazi-Blutrichter standen hingegen reichlich zur Verfügung.

Es verwundert nicht, daß Helmut Hirsch von den westdeutschen Universitäten keineswegs mit offenen Armen empfangen wurde. Erst 1972 nahm ihn die Universität Duisburg in ihren Lehrkörper auf. Dort konnte er nach seiner Pensionierung als Honorarprofessor weiterlehren. Den Lebensunterhalt hatte Hirsch zunächst an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie bestritten, die keinen vollen Hochschulstatus hatte. Unterstützung erfuhr er durch den SPD-Politiker Johannes Rau, vor allem in dessen Zeit als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen.

Seit seiner Rückkehr in Düsseldorf wohnend, wurde Hirsch durch viele Bücher international bekannt. Die in mehrere Sprachen übersetzte Biographie Rosa Luxemburgs liegt inzwischen in 20. deutscher Auflage vor. Weitere Biographien behandeln August Bebel, Eduard Bernstein, Robert Blum, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, aber auch Sophie von Hatzfeld und Bettine von Arnim. Noch im Jahre 2002 veröffentlichte er ein Buch über den revolutionären Demokraten Karl Ludwig Bernays, einen Freund von Heine, Marx und Engels. Mit diesen und weiteren Arbeiten wurde Helmut Hirsch zu einem der bedeutendsten Historiker der Arbeiterbewegung und des demokratischen Denkens im 20. Jahrhundert.

Der US-Bürger Helmut Hirsch erlebte noch, daß ein Afroamerikaner Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Ihm konnte er noch seine Stimme geben – dem Mann aus Chicago, jener Stadt, deren Rassenschranken er als Mitgründer des Roosevelt College einst beseitigen half. Helmut Hirsch war ein gerader Charakter und ein liebenswerter Mensch. Am 21. Januar ist er im 102. Lebensjahr verstorben.