Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 2. Februar 2009 , Heft 3

Frühstück mit Kind

von Reinhard Stöckel

Schlaftrunken schlurfe ich zum Tisch. Nicht nur meiner kalten Füße wegen, sehne ich mich zurück ins Bett. Aber meine vierjährige Tochter ist Frühaufsteher und will jetzt essen. Sie rührt kräftig ihren Brei zusammen, daß die Haferflocken stieben.

Kleines Ferkel, knurre ich.

Sie, empört: Ich bin kein Ferkel.

Wir kauen schweigend. Plötzlich sagt sie: Papa, muß ich auch sterben?

Ich stöhne auf und will nun erst recht zurück ins Bett. Oh Mann, denke ich, hat sie bei Oma wieder Nachrichten geguckt. Aber ich ahne: Nicht das Bild eines erst vermißten und dann tot aufgefundenen Kindes, nicht das eines kahlköpfigen kleinen Krebspatienten und auch nicht das Bild einer im Krieg verstümmelten Kinderleiche sind der Grund ihrer Frage, nicht der jähe Schicksalsschlag, sondern das von Anfang an feststehende Ende.

Darüber reden wir später. Oder: Das lernst du in der Schule. Oder: Mit vollem Mund spricht man nicht, schon gar nicht über den Tod. Nein, als aufgeklärter Vater kann ich mir solche Ausflüchte nicht gönnen. Das war eine Frage, eine Kinderfrage, klar und einfach. Bevor mir weniger klar und schon gar nicht einfach ein Ja über die Lippen kommt, hat meine Tochter schon die zweite Frage nachgeschoben: Stimmt’s, Papa, wenn ich immer esse, muß ich nicht sterben?

Mhm, denke ich, da hat sie schlau eine omapädagogische Mahnung umgedreht: Wenn man nicht ißt wird man krank und muß sterben. Ich muß also meinem Ja also noch ein Nein anhängen. Und mein Kind kann sich die jeweilige Antwort auf seine Fragen selbst aussuchen. Doch da verkündet es schon entschlossen: Weißt du was? Ich sterbe einfach nicht.

Zugegeben, die Fragen meiner Tochter verteilten sich über Tage und Wochen und trafen mich auch nicht jedes Mal auf nüchternen Magen. Doch die Bedenkzeiten dazwischen machten meine Antworten nicht besser: Ich habe mit Langlebigkeit getröstet: Ach, sage ich du wirst bestimmt hundert Jahre!

Nein, fordert meine Tochter, Tausend!

Ich habe es pragmatisch versucht: Stell dir vor, wenn keiner stirbt, dann ist ja bald kein Platz mehr auf der Erde. Dann wird es hier voller als letzte Woche auf dem Rummelplatz.

Das wäre toll, sagt meine Tochter.

Ich habe die Naturgesetze angeführt: Sieh mal, das ist wie bei den Bäumen im Herbst, die verlieren ihre Blätter. Das Gras wird welk …

Ja, sagt meine Tochter, und im Frühling dann ist es wieder grün und die Blätter sind wieder dran.

Ich wagte eine Andeutung von Unsterblichkeit und sprach von der Verwandlung in Erde oder winzige Würmchen oder …

Oder ein Marienkäfer, rief meine Tochter freudig.

Ja, sagte ich, vielleicht. Und war erleichtert und wußte doch: Das reicht nicht. Das ist kein Weg zwischen einem Ja und einem Nein, keiner zwischen tröstlicher Lüge und einer Wahrheit, die mir vielleicht schmerzlicher ist, als meinem Kind. Mir scheint, die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit, die schwerste Erkenntnis, die das Leben uns aufgibt: »… daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist!« In den fünfzig Jahren, die in etwa seit meiner Austreibung aus dem kindlichen Paradies der Unsterblichkeit vergangen sind, habe ich zwischen Ja und Nein keinen Ausweg gefunden, nur Aufschub.

Nicht nur an diesem Morgen wünschte ich, ich könnte meinem Kind von einem Himmel voller Engel erzählen und von einem lieben Gott. Sollte ich meiner Tochter gegenüber nicht wenigsten, die Möglichkeit seiner Existenz einräumen? Habe ich nicht selbst, schon vom Kindergarten an atheistisch geschult, noch als Zweit- oder Drittkläßler abends – man kann ja nie wissen – gebetet: Lieber Gott, mach das ich nicht sterben muß. Und meine Eltern auch nicht …

Später lernte ich: Religion ist Opium fürs Volk. Nö, dachte ich, das muß nicht sein. Ein Kasten Bier tut es auch. Prost, wir werden hier auf Erden schon das Himmelreich errichten. Inzwischen ist das Bier besser geworden, und die Zeitungen schreiben, daß ein irdisches Himmelreich schierer Populismus sei. Trotzdem versuchen die einen, ihren (freiheitlich-demokratischen) Himmel auf die Erde zu bomben und die anderen sich selbst berauscht in den Märtyrerhimmel.

Jemand hat meiner Tochter eine Kinderbibel geschenkt. Nun gut, dachte ich, wir lesen ja auch Rotkäppchen, außerdem: Man kann ja nie wissen … Meine Tochter betrachtete interessiert die Bilder: Und Gott schuf Himmel und Erde und Vögel in der Luft.

Da, zeige ich, ein Löwe!

Sie fragt: Und wo ist Gott?

Liebend gern hätte ich jetzt auf einen bärtigen Alten gezeigt, der gütig über den Weltenrand lugt. Doch der Illustrator hatte Gott einfach weggelassen. Sollte ich sagen: Es gibt keinen Gott, manche Menschen glauben nur, daß … Müßte ich sie dann nicht auch über Grimms Märchen aufklären: Also Hexen gibt es nicht, und Wölfe fressen in der Regel keine Menschen. Warum vertraue ich auf ihre Intelligenz in der einen und nicht in der anderen Frage? Weil sie nicht vergleichbar sind? Weil über die andere noch Erwachsene streiten? Letztlich liebe ich selbst zu sehr den Zauber solcher Geschichten. Also sage ich: Gott ist gerade nicht da.

Sie blättert vor: Und wo ist er hin?

Ich hebe die Schultern und denke: Mein Gott, warum hat Nietzsche dich sterben lassen?

Auch das Fernsehen suchte mit 3sat neulich, während meine Tochter schlief, 45 Minuten lang »Wer ist ICH?« und antwortete mit den neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung. Auch unsere Fragen kamen darin vor: Was ist nach dem Tod, und wo ist Gott? Um die Antwort zu finden, wurden buddhistische Mönche und christliche Nonnen verdrahtet. Die Leistung war triumphal, die Botschaft klang ernüchternd – wie die Berichte der ersten Weltraumfahrer: Gott? Den haben wir dort oben nicht gesehen! Die Antwort der Hirnraumfahrer: Bewußtsein? Nichts als die Summe elektromagnetischer Impulse? Anders: Mit dem Körper stirbt der Geist. Transzendente Realität und Gotteserfahrung? Nichts als neuronale Prozesse! Ich schaltete ab und dachte: Gott, verdamm mich; aber ich vermisse dich.

Neulich sah ich in der Buchhandlung ein Bilderbuch: »Wo bitte geht’s zu Gott?, fragte das kleine Ferkel«. Toll, dachte ich: Dem geht es wie uns und kaufte das Buch.

Doch das kleine Ferkel hat Gott auch nicht gefunden. Es fand in Gottes Häusern nur einen Bischof, einen Rabbi und einen Mufti. Der eine aß Menschenfleisch (Christi Leib) zum Abendmahl, der zweite drohte mit der Sintflut und der dritte mit dem Höllenfeuer. Das Buch schließt mit der Feststellung: »Dem Ferkel haben sie nichts vorgemacht, es hat sie alle ausgelacht.«

Diesem Buch, erfahre ich, hat man manches vorgeworfen und in einen Verbotsantrag geschrieben: Gotteslästerung und Antisemitismus zum Beispiel. (Das Gericht entschied, daß auch naßforscher Atheismus nicht gesetzwidrig sei.)

Trotzdem: Ich spüre, das reicht nicht. Der Autor und Illustrator des Ferkelbuches schütten mit dem religiösen Bade gleich jedes spirituelle Bedürfnis aus. Will sagen, sie verleugnen und verlachen es. Mag sein, mancher kennt dieses Bedürfnis nicht. Ich hingegen halte es für elementar. Denn die Frage nach Gott kommt aus der Frage nach dem Tod. Nicht, wie in Schmidt-Salomons Buch von der Plakatwand.

Auch das kleine Ferkel, denke ich mir, will nicht sterben. Aber es hat am Ende der Geschichte keine Chance zu neuen Fragen. Keine Leerstelle, keine Lücke am Lebenshorizont, die mit Phantasie sich füllen läßt.

Ich kehre die Haferflocken zusammen, sehe meine Tochter an und sage: Nein, du bist kein kleines Ferkel. Sag du mir jetzt: Warum willst du nicht sterben? Und vor allem: Warum willst du leben?

Vom Autor erschien dieser Tage im Aufbau-Verlag Berlin »Der Lavagänger«.