Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 16. Februar 2009 , Heft 4

Die schwarze Fahne der Illegalität

von Uri Avnery, Tel-Aviv

Die israelischen Fernsehzuschauer werden seit kurzem mit seltsamen Bildern konfrontiert: Armeeoffiziere erscheinen nur mit unkenntlich gemachten Gesichtern, so wie man es bei Kriminellen tut, wenn das Gericht ihre Identifizierung verbietet. Das geschieht auf Befehl des Militärzensors bei allen Offizieren vom Bataillonskommandeur abwärts, die am Gazakrieg beteiligt waren. (Die Gesichter der Brigadekommandeure und der ranghöheren Offiziere sind allgemein bekannt.)

Direkt nach der Feuerpause brachte der Verteidigungsminister Ehud Barak ein Sondergesetz ein, das allen am Gazakrieg beteiligten Offizieren und Soldaten unbegrenzte Unterstützung des Staates zusagt, falls sie im Ausland wegen Kriegsverbrechen angeklagt würden. Ich bin nicht gegen Anklagen im Ausland, doch als israelischer Patriot wäre es mir lieber, daß Israelis, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben, in Israel vor Gericht gebracht würden. Das wäre für das Land notwendig, für alle anständigen Offiziere und Soldaten der israelischen Armee, für die Erziehung zukünftiger Generationen von Bürgern und Soldaten.

Dazu ist es nicht nötig, allein das Völkerrecht zu bemühen, es gibt auch israelische Gesetze gegen Kriegsverbrechen. Von Richter Binyamin Halevy stammt der unvergeßliche Satz, daß es selbst in Kriegszeiten Befehle gebe, über denen »die schwarze Flagge der Illegalität« wehe. Er sagte ihn bei dem Prozeß gegen die Grenzpolizisten, die 1956 für das Massaker in Kafr Kassem verantwortlich waren, bei dem Dutzende von Kindern, Frauen und Männern niedergemäht wurden; sie verletzten eine Ausgangssperre, von der sie nichts gewußt hatten.

Es gibt nicht den geringsten Zweifel, daß im Gazakrieg Verbrechen begangen wurden. Es ist nur die Frage, in welchem Ausmaß und von wem. Eine ernsthafte juristische Untersuchung müßte ganz oben beginnen: Jene Politiker und ranghohen Offiziere, die den Krieg entschieden, müßten befragt werden.

Eine unabhängige Untersuchung müßte herausfinden, ob die Entscheidung, den Krieg zu beginnen, gerechtfertigt war oder ob es einen anderen Weg gegeben hätte, das Abschießen der Qassamraketen auf israelisches Territorium zu beenden. Zweifellos kann und soll kein Land dulden, daß seine Städte und Dörfer von jenseits der Grenze bombardiert werden. Aber hätte dies nicht durch Verhandeln mit den Gaza-Behörden verhindert werden können? War nicht die Entscheidung unserer Regierung, die Hamas, den Sieger der demokratischen palästinensischen Wahlen, zu boykottieren, der wahre Kriegsgrund? War die Verhängung einer Blockade über anderthalb Millionen Bewohner des Gazastreifens nicht eine der Ursachen für das Abfeuern der Qassams? Kurz gesagt: Wurden Alternativen in Erwägung gezogen, bevor entschieden wurde, einen solch mörderischen Krieg zu beginnen?

Das, was während des Krieges von Politikern und Offizieren geäußert wurde, machte deutlich, daß der Plan wenigstens zwei Ziele hatte, die als Kriegsverbrechen angesehen werden könnten: 1. ein Maximum an Tod und Zerstörung verursachen, um »einen Preis festzusetzen«; um »es in ihr Bewußtsein einzubrennen«; um »die Abschreckung wiederherzustellen« und vor allem die Bevölkerung dahin zu bringen, sich gegen die Hamas zu erheben und die Regierung zu stürzen. Dies ging ganz klar gegen die zivile Bevölkerung. 2. unter allen (wörtlich gemeint: allen) Umständen Todesopfer in unserer Armee zu verhindern, indem jedes Gebäude zerstört und jedes menschliche Wesen in der Gegend getötet wird, in der sich unsere Soldaten bewegen. Verschiedentlich wurden Bewohner vorher gewarnt, sie sollten fliehen, aber das war nur ein Alibi: Es gab keinen Ort, an den sie hätten fliehen können.

Unter denen, die der Kriegsverbrechen verdächtigt werden, haben Rabbiner einen »Ehrenplatz«. Wenn man von Rabbinern spricht, denkt man gewöhnlich an alte Männer mit langen, weißen Bärten und großen Hüten, die ehrwürdige Weisheiten von sich geben. Doch die Rabbiner, die unsere Soldaten begleiten, sind eine andere Spezies. Während der vorigen Jahrzehnte hat das vom Staat finanzierte religiöse Bildungssystem »Rabbiner« produziert, die eher mittelalterlichen christlichen Priestern ähneln als den jüdischen Weisen aus Polen und Marokko. Dieses System indoktriniert seine Schüler mit einem gewalttätigen Stammeskult, der völlig ethnozentrisch ist: Die ganze Weltgeschichte sei nichts anderes als eine endlose Geschichte der Juden als Opfer. Dies ist die Religion eines Auserwählten Volkes, anderen Völkern gegenüber gleichgültig, eine Religion ohne Mitleid für die, die nicht jüdisch sind, die den von Gott angeordneten Genozid – im biblischen Buch Josua beschrieben – verherrlicht.

Die Früchte dieser Erziehung sind die »Rabbiner«, die nun die religiöse Jugend unterrichten. Mit deren Ermutigung ist ein systematischer Versuch unternommen worden, die israelische Armee von innen heraus zu übernehmen. Kippa tragende Offiziere haben die Kibbutzniks ersetzt, die noch bis vor kurzem in der Armee vorherrschend waren. Viele Offiziere der unteren und mittleren Ränge gehören zu dieser Gruppe. Das herausragendste Beispiel unter ihnen ist der Chef-Rabbiner der Armee Oberst Avishai Ronski. Er gehört zur äußersten Rechten und ist nicht weit entfernt von den Ansichten des verstorbenen Rabbiners Meir Kahane, dessen Partei in Israel verboten ist.

Unter der Schirmherrschaft des Armee-Rabbinats wurden religiös-faschistische Broschüren der ultrarechten Rabbiner an die Soldaten verteilt, in denen es unter anderem heißt, daß die jüdische Religion es verbiete, »auch nur einen Millimeter von Eretz Israel aufzugeben«, daß die Palästinenser wie die biblischen Philister (von denen der Name Palästina abgeleitet wurde) ein fremdes Volk seien, das das Land überfallen habe, und daß jeder Kompromiß – so wie es das offizielle Regierungsprogramm aufzeigt – eine Todsünde sei. Die Rabbiner riefen die Soldaten offen auf, gegenüber den Arabern grausam und gnadenlos zu sein. Sie barmherzig zu behandeln, sei Ausdruck schrecklicher, entsetzlicher »Unmoral«.

Die Planer dieses Krieges wußten, daß der Schatten von Kriegsverbrechen über der geplanten Operation schwebte. Darum wurde der Staatsanwalt (dessen offizieller Titel »Rechtsberater der Regierung« ist) an der Vorbereitung beteiligt. Armee-Chefanwalt Oberst Avichai Mandelblit enthüllte jetzt, daß seine Offiziere während des ganzen Krieges die Kommandeure – vom Stabschef bis zum Divisionskommandeur hinunter – begleitet haben.

Der Chefanwalt, dessen Aufgabe es ist, der Armee professionellen und objektiven Rat zu geben, redet über den »ungeheuerlichen Feind« und versucht, die Aktionen der Armee zu rechtfertigen, indem er sagt, daß es ein Kampf gegen »einen hemmungslosen Feind« gewesen sei, der den »Tod liebe« und Schutz »hinter dem Rücken der Frauen und Kinder« finde. Solche Sprache ist vielleicht in der Rede eines kriegstrunkenen Einsatzkommandeurs entschuldbar, aber unannehmbar, wenn sie vom Chef der Armeejustiz kommt.

Wir müssen alle juristischen Möglichkeiten hier in Israel ausschöpfen und auf einer unabhängigen Untersuchung sowie auf der Anklage der verdächtigen Täter bestehen.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz; von der Redaktion gekürzt