Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 2. Februar 2009 , Heft 3

Der Weise von Heidelberg

von Hermann-Peter Eberlein

Es gibt Lebensweisen, die gibt es nicht mehr. Der Caféhausliterat gehört dazu – die da heute in den genormten Coffee-Shops à la Starbucks vor ihren Laptops sitzen, verfolgen miserable Börsennachrichten oder hauen E-Mails in die Tasten. Der akademische Bohèmien gehört dazu, nicht zu verwechseln mit dem akademischen Proletarier, den es freilich wieder zur Genüge gibt. Der Weise gehört dazu, der nichts darstellt, sondern sich selbst genügt. Einer, der das alles in sich vereinte, war Kurt Wildhagen, der am 19. Februar vor sechzig Jahren starb.

»Ein Mann sitzt schon seit den frühen Morgenstunden an einem runden Marmortisch. Er hat sich ein paar Brote mitgebracht, die er genüßlich mit einer Tasse Kaffee verzehrt. Er liest Zeitungen oder eines der zahlreichen Bücher aus seiner übervollen abgeschabten Aktentasche. Mitunter macht er sich Notizen, für die, wenn in der Eile kein Papier zu finden ist, auch der Tisch herhalten muß. Langsam füllt sich das Café, und unter den Besuchern sind nicht wenige Bekannte, von denen der eine oder andere, auf einen zustimmenden Blick hin, an den Tisch tritt und mit dem Stammgast ein paar Worte wechselt. Oft sind es Studenten. Manch einer nimmt Platz, und es scheint so, als finde da eine Art Unterricht statt. Kaum ein Fremder im Café, dessen Blick nicht unwillkürlich zu den Tischen am Fenster wandert, wo Wildhagen sitzt, der ihn von Ferne an die Gestalt Gerhart Hauptmanns oder gar Goethes erinnert.«

Die Szene, von einem Späteren beschrieben, spielt in Heidelberg, vermutlich im Café Haeberlein (das es nicht mehr gibt), vielleicht auch im Café Krall in der Hauptstraße (das jetzt Schafheutle heißt). Sie spielt im Heidelberg des Jahrzehnts vor dem Ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit, im Heidelberg Max Webers und Ernst Troeltschs, Friedrich Gundolfs und Alfred Momerts, in der Stadt von Karl Jaspers und Stefan George. Es ist die Zeit jenes liberalen, offenen »Heidelberger Geistes«, der die Stadt und ihre Universität eine Generation lang zum wahren geistigen Gegenpol des allzu selbstbewußten, allzu forschen, allzu großen Berlins in Deutschland hat werden lassen.

Dabei ist Wildhagen erst um die Jahrhundertwende in die badische Universitätsstadt gekommen. Als Sohn einer einigermaßen begüterten Familie norddeutscher Herkunft war er 1871 in Moskau geboren; 1886 mit die Familie nach Deutschland zurückgekehrt, hatte Kurt kurz in Greifswald, dann vier Jahre in Berlin, zuletzt in Marburg studiert, wo er in ein engeres Verhältnis zu Hermann Cohen getreten war, einem der Begründer des Neukantianismus. Abgeschlossen hatte er freilich sein Studium nicht – vermutlich war eine Examensphobie schuld daran.

In Heidelberg, das er für den Rest seines Lebens kaum mehr verlassen wird, beginnt Kurt Wildhagen seine Caféhausexistenz. Er schreibt für das Feuilleton der Heidelberger Zeitung und der Badischen Post, zumeist Theaterkritiken. Er übersetzt Gogol und gibt eine zwölfbändige Turgenjew-Ausgabe heraus. Er besucht, ohne immatrikuliert zu sein, weiterhin Vorlesungen. Er füllt Berge von Zetteln mit Unmengen von Notizen und hält gelegentlich öffentliche Vorträge. Er gibt Studenten Nachhilfeunterricht in alten und neuen Sprachen, in Geschichte und Philosophie – sein gewaltiges Wissen ist stadtbekannt, und ganz selbstverständlich reden auch Universitätsangehörige den Studienabbrecher mit »Herr Doktor« an. Wovon der »Diogenes des Café Haeberlein« eigentlich lebt, weiß niemand so genau; mit Geld kann er sowieso nicht umgehen. Seine kleine Wohnung in der Kisselgasse 2, dem heutigen Theologicum gegenüber, verkommt im Laufe der Jahre zusehends.

Als man ihm als Anteil seines Erbes ein riesiges Bett schickt, in dicke Lagen Pappe fest verschnürt, schneidet er die Verpackung auseinander, weiß sie aber unter dem schweren Bett nicht zu entfernen und steigt fünf Jahrzehnte lang über die Pappe in sein Nachtlager. Kein Wunder, daß sich die Feuerpolizei für seine Wohnung interessiert. Die Hitlerzeit übersteht er, der aus seiner Antipathie gegenüber dem Nationalsozialismus nie einen Hehl gemacht hat, unbehelligt – vielleicht, weil man ihn für ungefährlich hält oder er einfach zu bekannt ist. Doch er leidet: Die Bücher seiner Freunde – wie die des Goethe-Biographen Emil Ludwig – werden verbrannt, er selbst hungert und verlottert. Den Hausmantel, in dem er die Tür öffnet, hält eine Kordel zusammen. Zwischen den Bergen von Büchern und Papieren steht irgendwo ein Nachtstuhl, dessen Abdeckung als Schreibtisch dient. Als der alte Mann mit dem schlohweißen Bart stirbt, will den Nachlaß niemand sichten – zwölf Zentner Papier aus Wildhagens Zimmer werden verbrannt. Wie viele lesenswerte Einsichten, wie viele Meisterwerke mögen sich darunter befunden haben?

So bleibt der Nachwelt von Kurt Wildhagen ein einziges kleines Buch: »Rendez-vous der Leidenschaften«, 1926 unter dem Pseudonym Samogon erschienen, eine allerliebste Sammlung historischer Anekdoten und philosophischer Einsichten. Ende 1997 hat das Kurpfälzische Museum in Heidelberg eine Ausstellung zu Wildhagen präsentiert und einen Erinnerungsband zusammengestellt. Denn es sind vor allem Erinnerungen an den »Sokrates im deutschen Athen«, die bleiben: die seiner Heidelberger Freunde und Mitbürger, besonders aber die seiner Schüler. Sokratische Pädagogik jedenfalls hat zum Glück immer Wirkung – auch wenn die Lebensform vergeht, in der sie eine Zeitlang geübt worden ist.