Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 2. Februar 2009 , Heft 3

Der Boss ist wahnsinnig geworden

von Uri Avnery, Tel-Aviv

Vor 169 Jahren schrieb Heinrich Heine ein zwölfzeiliges Gedicht »An Edom«. Der deutsch-jüdische Dichter meinte damit Deutschland und vielleicht alle Nationen des christlichen Europas: »Ein Jahrtausend schon und länger,/ Dulden wir uns brüderlich / Du, du duldest, daß ich atme, Daß du rasest, dulde ich.// Manchmal nur in dunklen Zeiten,/ Ward dir wunderlich zu Mut,/ Und die liebefrommen Tätzchen/ Färbtest du mit meinem Blut!// Jetzt wird unsre Freundschaft fester,/Und noch täglich nimmt sie zu:/ Denn ich selbst begann zu rasen,/ Und ich werde fast wie du.«

Der Zionismus, der etwa fünfzig Jahre nach Heines Gedicht entstand, hat diese Prophezeiung voll erfüllt. Wir Israelis sind wie alle anderen Nationen geworden, und die Erinnerung an den Holocaust bringt uns von Zeit zu Zeit dazu, uns wie die Schlimmsten unter ihnen zu verhalten. In diesem Krieg haben Politiker und Generäle wiederholt die Redewendung gebraucht: »Der Boss ist wahnsinnig geworden!« Ursprünglich wurde dies vom Gemüsehändler auf dem Markt gerufen, im Sinne von ›Der Boss ist verrückt geworden, er verkauft seine Tomaten mit Verlust‹. Aber im Laufe der Zeit ist aus dem Scherz eine tödliche Doktrin geworden, die oft bei öffentlichen Diskursen auftaucht: Um unsere Feinde abzuschrecken, müßten wir uns wie Wahnsinnige benehmen, müssen gnadenlos töten und zerstören. Man kann die Bösartigkeit dieses Krieges nicht verstehen, wenn man den historischen Hintergrund nicht berücksichtigt: die Opfermentalität nach all dem, was Juden Jahrhunderte lang angetan wurde, und die Überzeugung, daß wir nach dem Holocaust das Recht hätten, alles tun zu dürfen, um uns zu verteidigen, ohne Hemmungen.

Als das Töten und Zerstören im Gazastreifen auf seinem Höhepunkt war, geschah etwas weit weg in Amerika und hatte gar nichts mit dem Krieg hier zu tun – war aber doch sehr mit ihm verknüpft: Der israelische Film »Waltz with Bashir« wurde ausgezeichnet. Die Medien berichteten mit großer Freude und mit Stolz darüber, brachten es aber nicht fertig, das Thema des Filmes zu erwähnen. Das Thema dieses außergewöhnlichen Films ist eines der dunkelsten Kapitel in unserer Geschichte: das Sabra- und Shatila-Massaker (1982). Im Laufe des ersten Libanonkrieges führte eine christlich-libanesische Miliz unter der Schirmherrschaft der israelischen Armee ein abscheuliches Massaker an Hunderten von hilflosen palästinensischen Flüchtlingen aus, die in ihrem Lager eingesperrt waren, an Männern, Frauen, Kindern und alten Leuten. Der Film beschreibt diese Schreckenstaten peinlich genau, einschließlich unseres Anteils.

Der erste Libanonkrieg dauerte 18 Jahre und kostete mehr als 500 unserer Soldaten das Leben. Die Planer des zweiten Libanonkrieges (2006) entschieden sich, solch einen langen Krieg und solch eine hohe Todesrate zu vermeiden. Sie erfanden das Prinzip des »wahnsinnigen Bosses«: das Zerstören von ganzen Stadtteilen, das Verwüsten ganzer Gebiete, das Zerstören der Infrastrukturen. Während 33 Kriegstagen wurden etwa tausend Libanesen getötet, die meisten von ihnen Zivilisten – ein Rekord, der im jetzigen Krieg schon am 17. Tag gebrochen wurde. Doch in jenem Krieg erlitten unsere Bodentruppen vor Ort große Verluste. Und die öffentliche Meinung, die zu Beginn den Krieg mit demselben Enthusiasmus wie dieses Mal unterstützte, änderte sich schnell.

Der Schatten dieses zweiten Libanonkrieges liegt schwer über dem Gazakrieg. Alle in Israel schworen, die Lektion gelernt zu haben. Und die Hauptlektion hieß: das Leben keines einzigen Soldaten zu riskieren. Ein Krieg ohne Verluste – auf unserer Seite. Unsere Medien widmeten sich intensiv dem Fall einer Qassam-Rakete auf ein Haus in Ashkalon, in dem drei Bewohner einen Schock erlitten; sie verlieren aber kaum Worte über die vierzig Frauen und Kinder, die in der UN-Schule getötet wurden. Dies ist nur möglich, weil unser ganzes Land durch Gefühllosigkeit infiziert ist. Die Leute sind nicht mehr geschockt, wenn sie ein verstümmeltes Baby oder Kinder sehen, die tagelang neben der Leiche der Mutter lagen, weil die Armee sie nicht aus dem zerstörten Haus ließ. Es scheint, als ob sich fast niemand mehr um irgend etwas kümmere: weder die Soldaten noch die Piloten, weder die Medien noch die Politiker – und auch die Generäle nicht. Moralischer Wahnsinn, dessen Hauptexponent Ehud Barak ist. Vielleicht wird er von Zipi Livni übertroffen, die lächelte, während sie über das gräßliche Geschehen redete. (Zur Kriegsprosa Zipi Livnis gehört beispielsweise folgender Satz – zitiert in einem Bericht des Deutschlandfunks am 20. Januar 2009 gegen 8.20 Uhr: »Sollte sie [die Hamas] immer noch nicht genug haben, werden wir ihr weiter einschenken.« Die Red.)

Am Ende wird ein Abkommen geschlossen werden: Erstens wird die Hamas mit dem Raketenbeschuß aufhören, zweitens wird Israel die Grenzübergänge zwischen dem Gazastreifen und der Außenwelt öffnen, und 3. werden Waffenlieferungen in den Gazastreifen unterbunden.

Die schlimmsten Folgen dieses Krieges werden erst in Jahren bemerkt werden: Israel hat im Weltbewußtsein ein schreckliches Image zurückgelassen; Milliarden von Menschen haben uns als blutrünstiges Monster wahrgenommen. Sie werden Israel nie wieder als einen sympathischen Staat, als einen Staat sehen, der Gerechtigkeit, Fortschritt und Frieden sucht. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung spricht von einem anständigen Respekt vor »den Ansichten der Menschheit«. Das ist ein weises Prinzip.

Noch schlimmer ist die Wirkung auf die Hunderte von Millionen Araber rund um uns herum: Sie werden nicht nur die Hamaskämpfer als die Helden der arabischen Nation ansehen, sie sehen auch ihre eigenen Regime in ihrer Nacktheit: kriecherisch, schmachvoll, korrupt und verräterisch. Die arabische Niederlage im 1948er Krieg brachte in seiner Folge den Fall fast aller arabischen Regime und den Aufstieg einer neuen Generation nationalistischer Führer wie Gamal Abd al-Nasser. Der Krieg von 2009 könnte den Fall der augenblicklichen arabischen Regime und den Aufstieg einer neuen Generation von Führern mit sich bringen – von islamischen Fundamentalisten, die Israel und den ganzen Westen hassen.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, redaktionell gekürzt