von Foma Kinijajew, St. Petersburg
Ich lernte Werner, damals 24 Jahre alt, in St. Petersburg kennen. Er betonte zwar ständig, daß er sich in Leningrad aufhalte, aber ich mußte ihn korrigieren. Das, was er vielleicht noch suchte, war fürs erste verloren. Das war 1994.
Ich studierte Germanistik, er Architektur. Natürlich kamen wir auch auf seinen merkwürdig altertümlichen Vornamen zu sprechen, den er als späte Reminiszenz seines Vaters auf die literarische Figur des Flakhelfers Werner Holt zu bewerten gedachte. Schließlich sei sein Vater mit ähnlichen Erlebnissen aus dem Krieg gekommen. Ich erzählte dann oft von Sergej und Anatoli, meinem Großvater und meinem Vater, die beide vom Großen Vaterländischen Krieg geprägt waren, der eine als Kämpfer, der andere als vertriebenes Kleinkind.
Wir verstanden uns in Geschichte und Politik auf Anhieb. Den Zahn des guten Staatssozialismus sowjetischer Bauart habe ich ihm ziehen müssen. Die deutsche Politik der Nachwendezeit nannte Werner nur schändlich. Unser Zusammensein währte etwa ein Jahr. Dann starb seine Mutter, und er mußte zurück nach Deutschland. Wir verloren uns aus den Augen. Zwar tauschten wir zwischen unseren Arbeits- und Lebensorten regelmäßig Briefe und telefonierten manches Mal; aber ein Zusammentreffen war in weite Ferne gerückt.
Ich arbeitete mittlerweile als Übersetzer und Dolmetscher, zum Teil für deutsche Kreditinstitute, was mich ab und an nach Deutschland führte. Ein Kontakt ließ sich trotzdem nicht herstellen. Werner war einmal in der Provinz abgetaucht, ein anderes Mal kam ein Karte aus Mexiko, ein drittes Mal ein verzweifelter Anruf mit der Bitte um Geld, später wieder die Rückzahlung mit der Bemerkung, es gehe aufwärts. Was ihn umtrieb, wußte ich nicht. Architektur offenbar nicht mehr.
Im vorigen Jahr, so etwa im Mai, kam ein ausführlicher Brief. Nach fünf Jahren Gelegenheitsarbeit, schrieb er, hätte er jetzt das Ziel vor Augen. Er möchte endlich in der Politik mitmischen, das bloße Gemeckere reiche nicht. Durch Zufall sei er auf eine Referentenstelle in der Linkspartei gesetzt worden, verdiene jetzt gut, sei ausgesprochen umfassend informiert und befinde sich in der Herzmaschine der Demokratie, dem Parlament. Ich zuckte beim Lesen zusammen. Das war doch nicht Werner. Er hatte doch immer gesagt, die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sitze im Haus der Wirtschaft in der Breiten Straße in Berlin-Mitte und nicht im Reichstag. Er hatte zu oft Lenin zitiert, um nun dem parlamentarischen Kretinismus auf den Leim zu gehen. Er wußte es doch besser! Ich beschloß, die Sache zu klären.
Im Herbst trafen wir uns. Freude über das Wiedersehen mischte sich bei mir mit der Skepsis über die Aussagen des letzten Briefes. Werner sah gut aus, war aufgeräumt, vielleicht ein bißchen müde, aber keineswegs vernebelt. Ich hatte das Gefühl, daß er in dem halben Jahr politischer Arbeit entweder eine Menge neu gelernt haben mußte, oder daß Verschüttetes wieder aufgefrischt worden war. Kurzum, wir kamen auf seine Arbeit zu sprechen.
Er raunte mir zunächst zu, daß ein geregeltes Einkommen mit Politik immer noch besser wäre als jede andere Arbeit. Aber dann ging es los: Was man bräuchte, wäre wieder eine kommunistische Alternative. Im Parlament säßen ausnahmslos bürgerliche Parteien. Die Linkspartei sei nichts weiter als eine aufgestockte und aufgemotzte USPD, die mitspielen will, und dieses Mitspielen nur noch mit reformistischen Plattitüden umgarne. Er, Werner, sei so eine Art Märchenonkel bei der USPD. Zwischen Bürokraten, parlamentarischen Bremsern, Reformisten, die sofort überlaufen würden, sobald sich woanders eine Perspektive böte, und Machtmenschen sei linke Sachpolitik, konsequent und glaubwürdig, nicht möglich. Eine emanzipatorische Perspektive fehle völlig – und sei auch nicht erwünscht. Das Ganze sei ein zusammengesetzter Irrtum, der die Fehler aus 150 Jahren organisierter Arbeiterbewegung ständig wiederhole. Auf der einen Seite Schwanken, Umfallen und Papiere ordnen, auf der anderen Seite Trade-Unionismus pur. Damit ließe sich für die Entrechteten der Gesellschaft nichts holen.
Ich war erschüttert und erleichtert zugleich. Erschüttert natürlich über den Zustand der sogenannten Linken in Deutschland, die wohl aufgegeben haben. Und erleichtert über die Wiedererkennung eines klaren Kopfes und die Wiedergewinnung eines Freundes. Am Ende zitierte Werner Kurt Tucholsky. Die Linkspartei handele nach dem Motto: »Wat brauchste Jrundsätze, wenn de een Apparat hast.« Er meinte zum Abschied, ich solle unserem Patriarchen bescheid sagen – wenn er selbst jemals nach dieser Maxime zu handeln begänne, könne man ihn holen.
Aus dem Russischen von Alexander Witimenko
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