Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 19. Januar 2009 , Heft 2

Nachtrag

von Erhard Crome

Manchmal vergißt man etwas. Dann muß einem auf die Sprünge geholfen werden. Geht es um Themensetzung im öffentlichen Raum, tut dies die Publizistik, die den sogenannten Zeitgeist produziert. Zwar ist auch dieser ein windiger Geselle, heißt es doch bereits in Goethens Faust: »Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln.« Doch scheint er unausweichlich.

Zum Jahr 2009 hatte ich auf die »Neunen« verwiesen (1919, 1929, 1939, 1949, 1989), die uns in diesem Jahre beschäftigen werden (Das Blättchen, H. 1/2009). Doch eine nicht minder wichtige hatte ich vergessen: Die 9, die 0009, die ganz am Anfang: als nämlich im Jahre 9 »Hermann der Cherusker« die »frech gewordenen Römer« schlug, im Teutoburger Wald oder wo auch immer. Den Spruch des Kaisers Augustus: »Varus, Varus, gib’ mir meine Legionen wieder«, hat wohl jeder aufmerksame Schüler gehört. Varus war der Verlierer, der römische General, der in der Schlacht fiel, und Hermann der Sieger. Eigentlich hieß er wohl Arminius, dann »Armin der Cherusker«, aber im nationalen Geiste des 19. Jahrhunderts wurde daraus ein »Hermann« gemacht. Den ursprünglichen germanischen Namen hat der Treibsand der Geschichte mitgenommen, weshalb einige Geistes-Spekulanten denn auch eine Querverbindung zwischen diesem Hermann und »Siegfried dem Drachentöter« aus der Nibelungensage herstellen wollten. Die gilt allerdings als nicht belegt.

Ulrich von Hutten hatte bereits im 16. Jahrhundert mit diesem »Hermann« hantiert, im 18. Jahrhundert Klopstock, der es auch schon mit Blut und Vaterland hatte. Schließlich Heinrich von Kleist mit Die Hermannschlacht. Sie zielt dann schon gegen den welschen Geist, jetzt den von Napoleon. So wurde kurzschlüssig von den Germanen auf die Deutschen geschlossen und Hermann zum Urvater der deutschen Nation erklärt. Friedrich Ludwig Jahn, der nicht nur »Turnvater« war, sondern auch nationaler Erwecker des deutschen Geistes, meinte, man brauche diesen Hermann für »nationale Erweckungsfeiern«. Wahrscheinlich, um den Geist aus der Flasche zu lassen. Das war er dann auch, bis nach 1945 die Meinung vorherrschte, da sollte er wieder rein.

Das ist nun auch wieder vorbei. Der Spiegel (51/2008) machte zur Jahreseinstimmung mit diesem Hermann auf. Er ist jetzt der »Feldherr aus dem Sumpf«. Und es wird enthüllt, dieser Heerführer sei »ein Machtpolitiker« gewesen, »der Rom weit mehr ins Wanken brachte, als bislang gedacht«. Beim alten Theodor Mommsen (1817–1903) – der im 19. Jahrhundert eine Römische Geschichte geschrieben hatte, für die er 1902 den Literaturnobelpreis erhielt – hieß es zwar auch schon, wir stünden bei dieser Schlacht des Jahres 9 »an einem Wendepunkt der Völkergeschicke. Auch die Geschichte hat ihre Flut und ihre Ebbe; hier tritt nach der Hochflut des römischen Weltregiments die Ebbe ein.« Das meint aber nur, hier hörte die Expansion des Reiches auf zugunsten der Konsolidierung des Eroberten. Ähnlich sah das auch der britische Historiker Edward Gibbon (1737–1794), der schon früher ein großes Werk über den Verfall und Untergang des Römischen Reiches geschrieben hatte. Gibbon stellte fest, die großen Eroberungen Roms seien unter der Republik gemacht worden, während es dem Kaiser Augustus überlassen blieb, »den ehrgeizigen Plan der Unterjochung der ganzen Erde aufzugeben«. Er hätte einzusehen vermocht, »daß Rom in seiner gegenwärtigen erhabenen Lage vom Wechselglück der Waffen viel weniger zu hoffen als zu fürchten habe«.

Der Spiegel nun kommt in seiner Kompilation verstreuter neuerer geschichtswissenschaftlicher Aussagen zu dem Schluß, der Hermann habe wohl einen Offensivschlag gegen Rom führen und eine »pangermanische Allianz« schaffen wollen. (Dem Leser drängt sich hier das dumpfe Gefühl auf, dieser wäre so etwas wie eine Mischung aus Bismarck und Helmut Kohl gewesen.) Er habe ein »Großkönigtum von Böhmen bis zur Nordsee« schaffen wollen, um es »gegen Rom in Stellung zu bringen«. Damit hätten die Germanen, sprich die Deutschen, schon vor 2000 Jahren unter Hermann eine europäische Aufgabe gehabt: »Der Verfechter eines Europas der Regionen stand gegen die Globalisierer des Altertums.« Der Spiegel ist schon gespannt auf die Rede, die die Kanzlerin »zum großen Jubiläum 2009« halten wird.

Bei Gibbon klang das etwas anders: »Einige der nordischen Stämme schienen der Lehre der Seelenwanderung anzuhängen, andere ersannen ein grobsinniges Paradies unsterblicher Betrunkenheit. Alle aber stimmten darüber überein, daß ein unter Waffen verbrachtes Leben und ein glorreicher Tod in der Schlacht die besten Zubereitungen für eine glückliche Zukunft, entweder in dieser oder in einer andern Welt wären.« So waren Lage und »Sitten der alten Deutschen. Klima, Mangel an Kenntnissen, Künsten und Gesetzen, ihre Begriffe von Ehre, Galanterie und Religion, ihr Freiheitssinn, Friedenshaß und Unternehmensdurst, alles trug dazu bei, um ein Volk kriegerischer Helden zu bilden.« Und die werden wohl gerade wieder gebraucht.