Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 5. Januar 2009, Heft 1

Mißverständnisse

von Klaus Hansen

Zeit verbringen: Der aus Solothurn stammende Bichsel weiß von einem Lebenslänglichen zu berichten, der sich offenbar gut in seiner Haft eingerichtet hatte. Er, Bichsel, sei fast vor Mitleid vergangen, als er das arme Schwein in seinen vergitterten zehn Quadratmetern hocken sah, wo er mit gelben Fingern dünne Zigaretten drehte, die er mit dem Tauchsieder r anzündete. Wie er das bloß aushalte, all die Jahre hinter Gittern, habe er vom Lebenslänglichen wissen wollen. Ohne Platz und Auslauf, nur mit ein paar Minuten Innenhof am Tag? Das sei doch die reinste Hölle. Aber der Gefangene habe überhaupt nicht geklagt, im Gegenteil. »Ich sage mir immer«, so der Lebenslängliche zu Bichsel, »die Zeit, die ich hier drinnen verbringen muß, die müßte ich draußen auch verbringen.« Noch heute befällt Bichsel eine tiefe Schwermut, wenn er an die Begegnung zurückdenkt.

Rettender Verhörer: Der nächtliche Überfall eines im Westerwald stationierten amerikanischen Soldaten auf einen Imbiß in Morsbach scheiterte an der berufsbedingten Deformation des Hörvermögens der 35jährigen Bediensteten. Der Soldat war in das leere Geschäft gekommen und hatte eine Bratwurst bestellt. Während die Verkäuferin eine der auf Vorrat gebratenen Würste vom Herd nahm und im Begriff war, sie auszuhändigen, rief der Kunde plötzlich: »Hands up!« Die Bedienstete, die gar nicht erst die Augen von der Ware hob und somit auch nicht die auf sie gerichtete Waffe sah, tat gerade so, als sei der Kunde mit seinem Wunsch ihrer Frage zuvorgekommen und griff wie automatisch zum seitlich stehenden Ketch up, mit dem sie der Wurst einen appetitlich roten Kamm verlieh. Das gab dem ohnehin sehr nervösen Amerikaner den Rest. Fluchtartig ließ er Frau und Wurst zurück, um in der Dunkelheit des Westerwaldes wieder zu sich zu finden.

Rotes Tuch: Schädlich, der namhafte Schriftsteller mit dem feinen Gespür für die Tücken unserer Muttersprache, berichtet von einem Westberliner Taxifahrer, mit dem er sich, ohne es zu wollen, derart überworfen habe, daß er noch vor Erreichen des Fahrtzieles den Wagen verlassen mußte. Er sei zur Mittagszeit am Ernst-Reuter-Platz zugestiegen. Der Fahrer habe einen ganz normalen Eindruck auf ihn gemacht, ein jovialer und gesprächiger Mann, nichts Besonderes. Als er, Schädlich, die Frage nach seiner Herkunft wahrheitsgemäß mit »DDR« beantwortet habe, sei der Taxifahrer plötzlich in einen unflätigen Ton verfallen. »Rote Socke« habe er ihn genannt, »Mielke-Jünger« und »Stasi-Spitzel«. Schädlichs Versuch, mit den etwas kriecherischen Worten: »Ich bin übrigens Antikommunist, ganz klar!« die Wogen zu glätten, habe das Gegenteil bewirkt. »Ist mir doch scheißegal, was für ein Kommunist du bist!«, sei der Fahrer lautstark aus der Haut gefahren und habe ihm unmißverständlich die Tür gewiesen. An der Ecke Chausseestraße/Hannoversche sei das gewesen.

Ein Fall aus Hessen: Ein Räuber aus dem Rheinhessischen hatte auf offener Straße eine junge Frau in seine Gewalt gebracht, um ihre Handtasche zu plündern. Nachdem er trotz aufwendiger Inspektion nicht fündig geworden war – weder Geld noch Wertsachen, nicht mal ein Handy – herrschte er die immer noch gefaßt und keineswegs entsetzt wirkende junge Frau an, sich bei ihm zu entschuldigen. Die Frau kam der Aufforderung bereitwillig nach und bot ihrerseits, um den Fall nun endgültig zu ihren Gunsten zu wenden, eine Entschädigung an. Sie hatte ein Buch aus dem Verlag »Kleine Schritte« dabei. Ein Ratgeber von Frauen für Frauen, der über das richtige Verhalten bei Belästigungen und Bedrohungen belehrte. Doch statt das gewiß horizonterweiternde Geschenk anzunehmen, erwürgte der Täter die Frau.

Wirtschaftsförderung: Als in den indischen Kolonien die Zahl der Giftschlangen überhand nahm, setzten die englischen Kolonialherren lukrative Prämien für jeden abgelieferten Giftschlangenkopf aus. Die neue Einnahmequelle regte die einfallsreichen Inder nicht nur dazu an, Kobras zu fangen, sondern nun auch dazu, widergesetzlich Kobras zu züchten, um leichter an die Köpfe zu kommen. Das zeigt einmal mehr, daß wir den wirtschaftlichen Aufschwung nicht vom kriminellen Aufschwung trennen dürfen.

»Hau bloß ab!«: Während der Ausführung zu einer kommunalen Behörde in der Kölner Innenstadt gelang es dem Strafgefangenen Krakowski, seinem Aufsichtsbeamten zu entkommen und sich in die Freiheit der Schildergasse abzusetzen. Die am Fluchtweg liegende Antoniterkirche nutzte der gebürtige Deutschpole nicht allein, um eine Verschnaufpause einzulegen, sondern auch, wie von der Kapelle auf großem Plakat empfohlen, zu einer zehnminütigen Einkehr. Nachdem er in sich gegangen und zu Gott gebetet hatte, war er zu dem Entschluß gekommen, die nächstgelegene Polizeidienststelle aufzusuchen. Vor den vertrauten Schranken der Ordnungsbehörde bat Krakowski mit fester Stimme darum, eine Strafanzeige aufgeben zu dürfen. Es handele sich bei seiner Person um einen Insassen der örtlichen Justizvollzugsanstalt, der soeben während einer genehmigten Ausführung entflohen sei. Als pflichtbewußter deutscher Knacki beanspruche er aber das Recht auf ordentliche Bewachung. Dieses sei ihm nicht in dem Maße zuteil geworden, wie es notwendig gewesen wäre, um seinen natürlichen Freiheitsdrang wirksam zu bändigen. Darum müsse er leider Gottes gegen den alles in allem tüchtigen Aufsichtsbeamten Anzeige erstatten, auch um zu beweisen, daß trotz mehrjähriger Haft sein Gewissen und Rechtsempfinden durchaus intakt geblieben seien, was ihn ohne Frage tauglich mache für die Freiheit, die er sich eigenmächtig genommen habe. Der Polizeibeamte in der Wache Römisch Sieben der Kölner Innenstadt hatte bisher nichts anderes tun können als zuzuhören. An seinem Gesichtsausdruck ließ sich ablesen, daß er es mit abnehmender Geduld tat. Jetzt schien er überzeugt, einen Spinner vor sich zu haben, vielleicht einen jener »positiv-verrückten Neo-Dadaisten«, von deren merkwürdigen, im Grunde jedoch harmlosen Provokationen er heute morgen zufällig im Lokalradio gehört hatte. Darum nutzte der Wachtmeister die Atempause seines Gegenübers, um kurzen Prozeß zu machen und den Witzbold mit den drei Worten aus der Wache zu werfen, die am Ansatz dieser Absatzes zitiert sind.