Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 19. Januar 2009 , Heft 2

Die Ulbricht-Legende

von Wolfgang Sabath

Als des Mannes 60. Geburtstag näher kam, wies der seine Untertanen (zwar üblich, aber nichtsdestoweniger irrtümlich Genossinnen oder Genossen geheißen) an, den bevorstehenden Tag zu einem großen Feiertag werden zu lassen. Und zwar zu einem Feiertag des ganzen Volkes. Damit auch alles seinen damals für üblich gehaltenen Gang gehe, übergab er – sicher ist sicher – an seine Ehefrau jene Parteikommission, die über die angestrebten Straßenumbenennungen, Denkmäler, Orden, Namensverleihungen und andere Zeremonien zu beraten und die eine, wie es in der Führenden Partei der Bürokratisch-Demokratischen Republik hieß, Sekretariatsvorlage auszuarbeiten hatte. Chef dieses Sekretariats, das die Vorlage abzusegnen hatte, war – gewiefte Leser und Zeitkundler ahnen oder wissen es – natürlich das Geburtstagskind himself.

Daß dann alles ganz anders kam und der Großgeburtstag ausfiel, war nicht des Jubilars Verdienst – der Übervater, das Vorbild in Moskau war inzwischen verstorben –, und auch das Volk verhielt sich unbotmäßig. So schien es Einsichtigeren und Klügeren in seiner Umgebung zweckmäßig, mit Nachdruck Bescheidenheit einzufordern und die sogenannte Sekretariatsvorlage zum 60. Geburtstag des Genossen Walter Ulbricht ins Archiv zu stecken. Wo sie heute – wenn das gewußt worden wäre, hätte man sie vermutlich lieber geschreddert … – von jedermann eingesehen werden kann (in Büchern ist dieser Vorgang inzwischen auch nachlesbar), aber natürlich von vielen, die es anginge, nicht wird. Teils aus Desinteresse, teils, weil so ein Dokument heile Welten zu beschädigen in der Lage ist. Oder weil Ansichten und Blickwinkel korrigiert werden würden, die man nicht korrigiert sehen möchte. Da können natürlich Kuriosa nicht ausbleiben und zum Beispiel so aussehen:

»Im Urteil über seine eigene Leistung blieb er zurückhaltend, ja bescheiden.« Der bescheidene Walter Ulbricht. Selbst den Leipziger Ring und Berlins Prenzlauer Allee wollte er auf seinen Namen umbenennen lassen …

Bescheiden und zurückhaltend – so steht es wortwörtlich in einer neuen Publikation über jenen Mann zu lesen, der von seinen Mitgenossen gezwungen werden mußte, die Selbstorganisierung seiner Geburtstagsfestspiele aufzugeben: der bescheidene Genosse Walter Ulbricht. Aber offenbar muß sich der Verfasser einer neuen Ulbricht-Legende seiner Sache insofern nicht hundertprozentig sicher gewesen sein, als er einige Stellen weiter vermerkt: »Sein ausgeprägtes Selbstvertrauen ließ Selbstzweifeln kaum Entfaltungsspielraum.« Was für eine Sklavensprache, immer noch. Und doch weiß jeder, der einst gelernt hatte, zwischen den Zeilen zu lesen und zwischen den Zeilen zu schreiben, wie dieser Satz nur gemeint sein kann.

Zugegeben, es ist eigentlich der Schnee von gestern. Wenn nicht gar von vorgestern. Und autobiographische Texte, wie der in Rede stehende (Herbert Graf: Mein Leben. Mein Chef Ulbricht. Meine Sicht der Dinge, edition ost) stoßen zu allen Zeiten auf Widerspruch, und zwar immer dann, wenn Leser glauben (oder wissen!), daß die Dinge sich anders verhielten, als im jeweiligen Buch dargestellt. Da das nicht zu ändern ist, sollte Gelassenheit gepflegt werden. Sollen sie sich doch im Politbürohimmel darüber fetzen, ob Walter Ulbricht ein zurückhaltender und bescheidener Genosse war, nur weil er so gern Bratkartoffeln oder Kartoffelsuppe aß, oder ein Mann, der seit Anbeginn seiner politischen Laufbahn mit ausgeprägtem Machtinstinkt zu Werke ging. Was übrigens bekanntlich kein Widerspruch sein muß. Es geht uns nichts (mehr) an, es ist nicht mehr von Belang.

Anders sollte mit einer anderen Passage des Textes umgegangen werden, in der der Autor »Stalinismus«-Vorwürfe an die Adresse Walter Ulbrichts ad absurdum führten möchte, indem er notiert: »Der fast zügellose Umgang mit den Stalinismus-Verdikt fällt leicht. Bekanntlich gibt es bisher keine wissenschaftlich begründete, durch nachprüfbare Kriterien gesicherte Definition des Begriffes ›Stalinismus‹.«

Spätestens hier hört die Angelegenheit auf, kurios zu sein, hier bekommt sie quasiskandalöse Züge. Und zwar nicht, weil ein Autor eine Sicht auf die Geschichte bevorzugt, die längst durch die Faktenlage als widerlegt gelten sollte, das kommt täglich und stündlich vor. Sondern weil er diese Behauptung als »Leseprobe« in einem Blatte publizierte, das sich seit 1989 verbal antistalinistisch zu geben bemüht und sich dem antistalinistischen Grundkonsens der ihr nahestehenden Partei verpflichtet fühlt.

Natürlich soll – wir leben doch nicht mehr in der Ulbricht-Zeit! – der Mann seine Sicht öffentlich machen dürfen. Aber in gleicher Weise hätten die Herausgeber ihr vornehmes Schweigen zu diesem Unsinn brechen müssen. Daß sie es nicht taten, ist Skandal Nummer 2. Nähme man ihr Schweigen zu der Ulbricht-Legende nämlich ernst, hieße das doch, die SED-PDS hätte sich bei ihrer Gründung auf einen Konsens in einer Sache geeinigt, von der man bis heute – wir folgen dem Buchautor – eigentlich gar nicht weiß, was das ist: Stalinismus respektive Antistalinismus. Trotz der fast 200000 Treffer bei google.

Skandal Nummer 3 – hier muß ich vermuten – ist der Umstand, daß die Nachfolgerin der SED-PDS beziehungsweise der PDS natürlich nicht »stalinistisch« ist, aber die einstens sich als »gesunde Kräfte« gebärdenden Restbestände von Konservativteilen der SED – und das war die Mehrheit! – als Wähler benötigt. Und sie wird – vor Wahlen allemal – einen Teufel tun, eine für alle Teile nur schmerzhafte Debatte zu entfachen. Und die »gesunden Kräfte« wiederum brauchen den agilen, aber in ihren Augen durch und durch sozialdemokratisch versifften Parteiapparat.Kurzum: Es wird unter den Teppich gekehrt, was der Besen hergibt.

Das mag zum Teil auch an einer Art von »Bipolarität« zumindest im Ostteil dieser Partei liegen. Denn wer sich – hier nur als Beispiel benutzt, das das Problem verdeutlichen soll – in dieser Partei mit Nostalgikern anlegt, landet – ob ihm das nun gefällt oder nicht – zwangsläufig bei Berliner oder sächsischen Neoliberalissimos à la Lederer oder Weckesser; wer andererseits deren Ansichten und Handlungen nicht teilt, landet derzeit unvermeidlich auf dem Schoß von Sarah Wagenknecht oder Lucy Redler. Ober eben bei einem Autor wie dem Ulbricht-Schwärmer Herbert Graf.

So ist die Lage. Was tun? Neu beginnen?