von Klaus Hart, São Paulo
In Brasilien hat der Streit über die Bestrafung von Diktaturverbrechen zu einer Krise in der Regierung von Präsident Lula geführt. Sie wurde durch den Bundesstaatsanwalt Marlon Weichert ausgelöst, der einen Prozeß gegen berüchtigte Folteroffiziere des Militärregimes leitet.
Präsident Lula hatte drei Minister, zuständig für Justiz, Menschenrechte und Zivilkabinett, angewiesen, in der Frage der Vergangenheitsbewältigung nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen und die Militärs nicht weiter zu reizen. Doch die drei Minister, die in Lulas erster Amtszeit noch brav den Mund gehalten hatten, folgen gegen Ende der zweiten Amtszeit nicht mehr der Anweisung des Staatschefs, sondern schlossen sich der Argumentation des couragierten Staatsanwalts an. Der hatte Anfang August in Washington vor der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten den Stein ins Rollen gebracht. Dort beklagte er öffentlich, daß der brasilianische Staat unter Berufung auf ein Amnestiegesetz nicht gegen die Schuldigen von Diktaturverbrechen ermittele. Denn, so Weichert in einem Gespräch, »schaut man sich jenes Amnestiegesetz von 1979 genauer an, wird klar, daß Straffreiheit nur für politische Vergehen gilt, nicht aber für Verbrechen der Repression wie Folter. Der Staat kann Verbrechen gegen die Menschlichkeit gar nicht amnestieren – so wie es in Brasilien jedoch geschehen ist.«
Weichert wies vor der Kommission in Washington auch darauf hin, daß auch unter Präsident Lula im Polizeiapparat und in den Gefängnissen Brasiliens Folter weiterhin alltäglich sei. »Wenn man jene davonkommen läßt, die gestern Verbrechen gegen die Menschenrechte begingen, und wenn man solche Taten sogar vertuscht, ist das eine Botschaft an jene, die heute Menschenrechte verletzen: ›Hör zu, ich garantiere dir, daß du straffrei bleibst und niemand von deinen Verbrechen erfährt.‹ Da werden doch jene regelrecht inspiriert und gewinnen mehr Selbstvertrauen, die weiterhin Menschenrechte verletzen wollen.« Es fehle hierzulande auch der politische Wille, die Archive zu öffnen.
Chile, Argentinien und Uruguay arbeiteten zügig Diktaturverbrechen auf und seien bei der Vergangenheitsbewältigung viel weiter als Brasilien. Weichert erinnert daran, daß allerdings lediglich Argentinien dabei aus eigener Initiative handele. Chile hatte versucht, die gleiche Position wie Brasilien einzunehmen, wurde aber 2006 durch ein Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs verpflichtet, gegen Diktaturverbrecher vorzugehen. »Unglücklicherweise droht nun Brasilien eine Verurteilung durch internationale Gerichtshöfe – als Brasilianer macht mich das sehr traurig. Denn im Justizapparat vertrete ich mit wenigen Kollegen eine Minderheitsposition. Es gibt nun einmal die Überzeugung, daß man die Wahrheit vertuschen müsse und daß es vorteilhafter sei, über all diese Probleme nicht zu reden. Das ist eine Frage der Werte und der Kultur.«
Brasiliens Medien monieren regelmäßig die freundschaftlichen Beziehungen, die Präsident Lula zu bekannten Persönlichkeiten der extremen Rechten unterhält. Immer wieder wird dabei Romeu Tuma erwähnt, der zwei Jahre nach dem Militärputsch von 1964 in die gefürchtete politische Polizei DOPS des Militärregimes eintrat und in São Paulo von 1978 bis 1983 als Direktor die wichtigste DOPS-Zentrale führte. Derzeit ist Romeu Tuma Senator der rechtskonservativen Partei Democratas, die in São Paulo Bürgermeister stellt. Nach Bundesstaatsanwalt Marlon Weichert werden Diktaturverbrechen vertuscht, um »Biographien bestimmter Leute zu schützen und ihnen zu helfen, ihre Biographien in der jetzigen Form aufrechterhalten zu können. Viele Leute wollen nicht Rechenschaft darüber ablegen, was sie damals taten.« Käme die Wahrheit heraus, so Weichert, müßten einige Biographien erheblich umformuliert werden. Dies könnte auch Persönlichkeiten der Regierungsallianz betreffen.
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