Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 8. Dezember 2008, Heft 25

Gerdas und anderer Schweigen

von Wolfgang Sabath

Obwohl der Film – ob aufgrund stabsmäßig geplanter PR-Arbeit oder weil er einem im Oktober vor zwei Jahren vielbesprochenen und gelobten Buche folgte und sein Sujet potentiellen Interessenten quasi geläufig war – eine sehr gute und sehr ausführliche Presse hatte, war der Dokumentarfilm Gerdas Schweigen (von Britta Wauer, nach dem gleichnamigen Buch von Knut Elstermann) in der letzten Novemberwoche gerade noch in zwei Berliner Kinos zu sehen, er war quasi »durch«; und außerhalb Berlins wird es kaum anders gewesen sein, eher noch trauriger. Deutsches Dokfilmschicksal. Da aber an der Produktion des Films auch etliche öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten beteiligt waren, ist es nicht ausgeschlossen, daß Gerdas Schweigen irgendwann auch im Fernsehen gezeigt werden wird; nach 23 Uhr, versteht sich.
Ob der heftigen – wenn auch kurzzeitigen – Publizität, die dieser Geschichte der Berliner Jüdin Gerda, Tante des Knut Elstermann, die Auschwitz überlebt hatte und seit 1947 in New York lebt, zuteil geworden war, muß sie hier nicht referiert werden; und »bewerten« läßt sich Leben ohnehin nicht. Zumal das Schweigen dieser Frau nicht jenen Schweigereien zuzuordnen ist, derer wir uns jahrzehntelang befleißigten und denen wir – es ist, wie es ist – immer noch allzu gern verfallen. Ich rede jetzt nicht davon, daß die vielen Märchen und Sprachregelungen, gerade wenn es um Geschichte ging und geht, seit jeher in Propagandaabteilungen oder PR-Stäben ausgeheckt werden, sondern davon, wie bereitwillig wir gegebenenfalls derartigen Vorgaben folgen; daß es dazu nicht immer einer »führenden Partei« bedarf, können wir Tag um Tag erleben.
Nein, das Schweigen der Gerda hatte sehr persönliche Gründe, Gründe, die ihr von keiner political correctness oktroyiert worden waren. Wenn in diesem Falle schon von Correctness gesprochen werden soll, dann ist diese allenfalls moralischer Natur; was natürlich – unterm Strich – zu ähnlichen Verwerfungen führen kann, wie die politische. Gerda hatte ihrer New Yorker Familie jahrzehntelang verschwiegen, daß sie in Auschwitz ein Kind geboren hatte – das Mengele dann zielstrebig verhungern ließ: eine gläubige Jüdin, ledig, schwanger … Das wäre für ihre amerikanischen Familie und vor allem für ihren Sohn nicht zusammengegangen, es wäre moralisch unzumutbar gewesen. Also schwieg sie, Gerdas Schweigen. Bis sie Knut Elstermann zum Reden brachte.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß es auch nur einen Leser des Buches oder einen Besucher des Films gegeben haben könnte, der nicht Verständnis für die Frau gehabt hat, sich nicht jeglicher Besserwisserei enthalten hat. Obwohl diese Gerda-Geschichte doch eigentlich so gar nicht unseren oft gestanzten Geschichts- und Geschichtenmustern entspricht, die wir uns aus Literatur, Unterricht und Begegnung über lange Zeiträume hinweg angeeignet haben.
Mir will scheinen, es ist irgendwie tragisch, daß Betroffene, auch Überlebende von Auschwitz und anderen Lagern (von denen immer weniger Zeugnis ablegen können …), zum Teil mitschuldig an holzschnittartigen Bildern über ihre Leidenszeit sind. Abgesehen davon, daß wir Unbetroffenen oder Nachgeborenen jedem Versuch, derartige Bilder zu »ergänzen«, in der Regel immer mißtrauisch begegneten (wir wollten Opfer-Helden), war auch von Naziopfern in dieser Hinsicht wenig zu erwarten. Daß dieses Verhalten in der DDR besonders ausgeprägt war, wird, wer die Um- und Zustände jener Zeit berücksichtigt, nicht verwunderlich finden.
Ein in dieser Hinsicht geradezu exemplarisches Beispiel war die Veröffentlichung – beziehungsweise eben Nichtveröffentlichung … – des Buches Das Mädchenorchester von Auschwitz der französischen Sängerin Fania Fenelon. Das Buch war 1976 in Paris erschienen und kam vier Jahre später im Röderberg Verlag Frankfurt am Main heraus. Obwohl Fania Fenelon in der DDR wohlgelitten und durch ihre Tourneen nicht unbekannt war und obwohl eine Charakterisierung des Frankfurter Verlags als DKP- beziehungsweise DDR-nah noch eine gehörige Untertreibung wäre – den Weg in die DDR fand dieses Buch trotzdem nicht. Das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR – insonderheit sein Auschwitz-Komitee, dem dazumal eine Frau vorstand – war strikt dagegen gewesen.
Wer sich dennoch Zugang zu diesem Buch hatte verschaffen können (indem er zum Beispiel als Redakteur beim Röderberg Verlag ein Rezensionsexemplar bestellte – gegen das dann nicht einmal die Zollverwaltung der DDR etwas einzuwenden haben würde …), war fassungslos über das, was er dort zu lesen bekam. Das hatte er über Auschwitz noch nicht gehört, geschweige denn gelesen. Und er begriff, weshalb diejenigen »Auschwitzer«, die im Gegensatz zu Fania Fenelon, in staatlich geordnete Gedenk- und Erinnerungsabläufe eingebunden waren, dieses Buch vehement nicht mochten und seine Verbreitung kraft ihrer politischen und moralischen Autorität verhinderten – Trinkgelage und Sexorgien von Häftlingen und Bewachern ? Das mußte verschwiegen werden, das war dem Heldentum abträglich.
Vermutlich werden wir mit derartigen oder ähnlichen Konstruktionen solange zu leben haben, wie es bei Geschichte nicht in erster Linie um Geschichte, sondern vordergründig um Politik, um das jeweils Heutige geht. Und wann geht es schon nicht darum?