Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 10. November 2008, Heft 23

Wilhelmshaven: 6. November 1918

von Joseph Schneider

Gewitterluft! Wir Mariner wußten, daß ereignisreiche Stunden uns bevorstanden. Die Vorkommnisse in der Flotte, die Massenverhaftungen von Kameraden, die vor einigen Tagen stattgefunden hatten, hatten diese Stimmung erzeugt. Die 8. Kompanie der Matrosendivision, die aus dem Signalpersonal bestand, hatte von den Kameraden durch Privatsi gnale den herannahenden Sturm gemeldet erhalten. Die Flotte selbst war nach Kiel beordert worden, weil man dort den Boden für eine Erhebung nicht so günstig fand wie in Wilhelmshaven. Es war bekannt geworden, daß eine kleine Gruppe von Unteroffizieren der Signalkompagnie am
2. November öffentlich die Sünden der Offiziere bekanntgegeben hatte. Delegierte der revolutionären Marinemannschaften der verschiedenen Landformationen standen in engster Verbindung mit unserer Stube, wo wir mit 5 Unteroffizieren den Zeitpunkt der Erhebung und die Art der Durchführung beratschlagten. »Abwarten, noch ist der Zeitpunkt verfrüht«, war unsere Antwort auf das Drängen der Kameraden. Die Erhebung in Kiel war uns noch nicht bekannt. Sie wurde geheimgehalten. Nur einige unbestimmte Gerüchte drangen zu unseren Ohren.
»In Kiel ist die Revolution ausgebrochen.« Mit diesem Ruf drang ein alter Obermaat in unseren Kreis. Obermaat Dorn, der spätere Chef des Sicherheitswesens, legte mir wortlos ein Flugblatt vor, wo die Forderungen der Kameraden in Kiel an die Regierung veröffentlicht waren. Kein Wort, keine Erklärung, nur ein fragender Blick wartete auf eine Entgegnung. Blitzschnell zogen ernste Bilder vor meinen Augen vorüber. Ich sah Blut stromweise durch Straßen fließen, sah, wie die gepeinigten Marinesoldaten sich zu Tausenden auf die Straße ergossen, um ihr Mütchen an der verhaßten Bourgeoisie zu kühlen. Ich sah mich selbst an der Mauer stehen, 10 Gewehrläufe blitzten auf. »Fertig« …
»Wir dürfen unsere Kieler Kameraden nicht im Stich lassen«, kam es leise von den Lippen des alten Unteroffiziers.
Der Bann war gebrochen.
»Dann auf in den Kampf für die Freiheit!« Wir drückten uns die Hände. Ein Aufatmen ging durch den kleinen Kreis.
Es war dunkel geworden. Unsere Stube lag in einem Seitenflügel zu ebener Erde. Unaufhaltsam kamen und gingen die Abgesandten, von einem alten Kalfaktor der Wache mit einer Stallaterne geführt. Ein Unteroffizier der Stadtwache meldete uns, daß die Wache bereit sei, sie warte auf unsere Instruktion. Das Seebataillon, gegen das wir etwas Mißtrauen hegten, hatte melden lassen, daß die Schlüssel zur Waffen- und Munitionskammer in den Händen der Revolutionäre sei. Die Stadtwache war von unserer Kompanie besetzt. Es wurde beschlossen, daß um acht Uhr am folgenden Morgen nach Abfeuerung einer Signalrakete die Revolutionäre sich der Waffen bemächtigen und in einem Demonstrationszug zum Stationschef ziehen sollten, um dort ihre Forderungen zu unterbreiten. Die Forderungen selbst hatte ich mit einigen Stichwörtern auf einem Blatt Papier, worin noch kurz vorher ein Stück Käse eingewickelt war, verzeichnet.
Wir waren schon längst zu Bett gegangen, und noch immer kamen Delegierte, um sich Verhaltungsmaßregeln zu holen. Jedesmal, wenn schlürfende Tritte sich unserer Tür näherten, horchte alles gespannt auf das Kommando. Mußten wir doch darauf gefaßt sein, daß Verrat geübt sein konnte; daß eine Füsiliertruppe uns zum letzten Gang auf den Sandhaufen abholen wollte. Doch die Nacht verlief ruhig. Ich hatte Befehl gegeben, mich um vier Uhr zu wecken, da ich beabsichtigte, mit zwanzig Mann zum Bahnhof zu gehen, um die eintreffende Arbeiterschaft zu benachrichtigen und zum Mitgehen aufzufordern. Doch es kam anders.
Als ich das Quartier der 3. Kompanie betrat, kam mir aus dem 1. Stock ein Zug bewaffneter Rekruten entgegen. Ich hörte die Kommandoworte »laden, sichern« und wußte genug. Die Tore der Kaserne waren mit Maschinengewehren besetzt. Nun mußten wir die Dinge an uns herankommen lassen. Ich legte mich wieder zu Bett und verfiel in einen bleiernen Schlaf. Gegen sieben Uhr wurden wir geweckt, und man teilte uns die bekannten Tatsachen mit.
Jetzt ruhig Blut bewahren und abwarten. Auf dem Kasernenhof hatten sich schon größere Trupps gebildet, die von einem Gebäude zum anderen zogen und die Kameraden zum Sammeln aufforderten. Der Divisionskommandeur stand mit mehreren Kompanieführern in der Mitte des Platzes. Der Obmann der 4. Kompanie meldete, daß die Bemannung des Maschinengewehrs am Südtor zu uns stünde. Die Kameraden der benachbarten Seebataillonskaserne, die über die Mauer gesprungen waren, forderten zum Sprengen der Tore auf. Die Masse drängte zur Gewaltanwendung. Obermaat Dorn hatte die Matrosen gesammelt und hielt eine Ansprache.
Jetzt ging ich zum Kommandeur, der mit drei Offizieren auf dem Platze die Sachlage besprach. Ich forderte im Namen der revolutionären Mannschaften die sofortige Öffnung der Tore und Zurückziehung der Maschinengewehre und bewaffneten Rekruten.
»Das darf ich nicht, ich muß erst den Stationschef fragen, der dieses befohlen hat«, war die Antwort. Darauf ich: »In fünf Minuten geben Sie Befehl, die Tore freizugeben, oder Sie sind verloren.«
Das half. Es währte keine drei Minuten, und die Maschinengewehre und Rekrutenzüge zogen in ihre Quartiere. Der Herr Kommandeur, der es bis dahin verstanden hatte, den starken Mann zu markieren, klappte bei wie ein Taschenmesser. Ich sollte später noch sehr oft die Erfahrung machen, daß der vielbesungene Mut der Herren Offiziere sehr bald im Hosenboden zu finden war, wenn es einmal brenzlich für sie wurde. Oh, was hatten wir für Schmachtlappen bei der säbelrasselnden Gesellschaft!
Als die Tore frei waren, zog die Besatzung der Kaserne mit Ausnahme der Berufsunteroffiziere mit Musik und roter Fahne, aber ohne Waffen zum Tor hinaus, auf der Straße von den Kameraden der übrigen Marineteile Wilhelmhavens, die unter Führung des Oberheizers, des späteren Präsidenten von Oldenburg, Genossen Kuhnt, uns entgegenkamen, mit großem Jubel begrüßt.
Die erste Schanze des Feindes war gestürmt, und nach einigen Tagen war der ganze morsche Bau des militärischen Systems elendlich zusammengebrochen. Damals glaubten wir an die baldige Erfüllung unseres Traumes. Leider war die Enttäuschung nach kurzer Zeit desto größer. Die Gutgläubigkeit des deutschen Arbeiters, der den Versprechungen seiner Gegner ein williges Ohr schenkte und letzteren bald die ganze Macht überließ, und der Verrat ehemaliger Arbeiterbonzen tragen die Schuld, daß heute Sklavenketten die Glieder des Proletariats wiederum fest umschließen. Sorgen wir dafür, daß nicht alles umsonst gewesen ist, und bewahren wir den revolutionären Sinn, dann werden auch die Erfahrungen, die wir in dieser Zeit gesammelt haben, uns von großem Nutzen sein.

Aus: Mansfelder Volks-Zeitung, Eisleben, 18. Oktober 1919. Joseph Schneider (1882-1939) – Steuermann, 1918 Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates Wilhelmshaven, 1920/1921 führend an den Kämpfen in Mitteldeutschland beteiligt, Flucht nach Sowjetrußland mit einem Heißluftballon, 1936 in Moskau verhaftet, in einem Häftlingslager verstorben, 1957 rehabilitiert.