Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 10. November 2008, Heft 23

Die Huren im Tempel

von Vitense Parber

Der Neoliberalismus kam in den vergangenen zwei Jahrzehnten als so etwas wie der Marxismus-Leninismus der Jahrtausendwende daher. Vor allem die – Staatsgelder, also Steuern verbrauchenden – wirtschaftswissenschaftlichen Forschungseinrichtungen wurden sehr erfolgreich gleichgeschaltet: Privatisierung öffentlicher Güter vom Wasser bis zur medizinischen Versorgung, private Vorsorge für alles und jedes, Deregulierung und Zurückdrängung des Staates zugunsten eines entfesselten Marktes hießen die »wissenschaftlich« dargebotenen Götzen, denen zu opfern die Gesellschaft aufgerufen war. Wer von den Wissenschaftlern sich verweigerte, wurde aus dem Beruf gedrängt; schon wer sich nicht als stramm genug neoliberal gebärdete, hatte so gut wie keine Chance, in die akademischen Zirkel auch nur eingelassen zu werden. Hinter dem postulierten Pluralismus wurde, in Treue fest, ein Monotheismus vom Feinsten exekutiert: Nur einem Gott sollst du dienen – dem Markt.
Und wie sie gedient haben. Konsequenter ward einst der Marxismus-Leninismus in der Wirtschaftswissenschaft der DDR auch nicht durchgesetzt. Das einzige, was man heute – mitten im Crash – von der neoliberalen Inzucht noch zu hören bekommt, sind holocaustverniedlichende Entlastungsvergleiche zugunsten der Täter des neoliberalen Krieges, den sie in den vergangenen Jahren gegen die Gesellschaft geführt haben, sowie Gesundbetungen auf dem Niveau, der Mittelstand möge jetzt doch bitte Stellen schaffen. Der Aufschwung käme dann schon.
Der Kaiser ist nackt – und der immer wieder totgesagte Marx gar nicht so tot. Seit Monaten versorgt dietz berlin mit dem Kapital des Karl Marx’ vor allem junge Leute. Viele sind erst Anfang zwanzig und haben eine wichtige Grunderfahrung gemeinsam. Sie wurden in eine Welt hineingeboren, die ihnen vom ersten Tage an signalisierte: Wir wollen euch nicht, wir brauchen euch nicht, seht zu, wie ihr zurechtkommt. Viele ihrer Altersgenossen strömen zu katholischen Kirchentagen und erleben dort Wärme und Gemeinschaftsgefühl; sie, die Bildungshungrigen, lesen und kommen eines Tages auch bei Marx vorbei. In den vergangenen Monaten hat sich im Umkreis des SDS.Linke eine Lesebewegung formiert, die ab November in 31 Städten Kapital-Seminare veranstaltet; alles freiwillig.
Beteiligt sind vor allem jüngere Studenten. Auf die Apologeten des Neoliberalismus schauen sie übrigens mit der gleichen Verachtung herab, mit der wir einst den Unsinn in den Lehrveranstaltungen zur Politischen Ökonomie des Sozialismus ertrugen. Immer wieder läßt das Leben den Tempel mit den Huren der Herrschenden links liegen. Das gibt Hoffnung.