Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 10. November 2008, Heft 23

Das Buch Workuta

von Wolfgang Sabath

Im Mai 2006 verließ ich (gleichsam fluchtartig) die Veranstaltung eines Berliner »Bildungsvereins«. Der Grund: Mein Nervenkostüm war dem Auftritt etlicher Besucher nicht gewachsen. An diesem Abend war es um das Thema »Workuta« gegangen. Im Podium auskunftsbereite und auskunftsfähige ehemalige deutsche Deportierte. Der Abend dürfte für sie insofern nicht ganz unproblematisch gewesen sein, als es sich bei dem Verein um eine pds-nahe Institution handelte … Und im Publikum einige, die es – wieder mal – besser wußten und sich auch nicht genierten, dieses selbstbewußt und lauthals kundzutun. Ihr – vorgeblich linkes – Mantra: Es sei Krieg gewesen, und die Deutschen, und überhaupt … , und »Überspitzungen« …
Es war nicht auszuhalten. Ich ging.
Jetzt liegt seit etlichen Monaten ein neues Workuta-Buch vor, einer der Herausgeber war Workuta-Häftling, verurteilt zu 25 Jahren, und bei der Veranstaltung zugegen. Es darf nun mit bitterer Gewißheit davon ausgegangen werden, daß die Klientel der Relativierer nicht zu diesem Buch greifen wird. Und wenn sie sich doch dazu herabläßt, dann wird es ihre Kreise kaum stören. Und jeder SS-Mann oder Nazifunktionär, der ihnen in solcherart »Lagerliteratur« begegnet, wird sie in ihrer kruden Geschichtsauffassung bestärken: Na gut, die Überspitzungen, die hätten nicht unbedingt sein müssen …
Es gibt Bücher, die sich einer Rezension sperren. Nicht weil sie es nicht verdienten, rezensiert zu werden, sondern weil sie ob ihrer Kraft des Faktischen, die Dokumentarischem eben eigen ist, potentielle Rezensenten zu einer Art beredter Sprachlosigkeit verdammen. Mir jedenfalls ging es so mit vorliegendem Titel. Zumal auch er – wie unzählige ähnliche Bücher zuvor – jenen hilflos läßt, der immer noch auf der Suche nach dem »Warum?« ist.
Für den gewöhnlichen Irrsinn des stalinsowjetischen Lagersystems mag »das groteske Zeugnis« stehen, das der »Leiter der Sonderabteilung, Koshemjakin« in Vorbereitung eines Prozesses gegen Streikführer erstellte; am 4. August 1953 hätten sich demnach in Workuta befunden:
1. Spione: USA 1062; England 422; Türkei 19; Iran 25; Afghanistan 14; China 26; Japan 74; Frankreich 121; Italien 2; Finnland 36; Rumänien 66; Deutschland 1062; Spanien 1; Benelux 2; Bulgarien und Jugoslawien 2; Ungarn und Tschechoslowakei 6; Polen 12; Skandinavien 2; Vatikan 1; Baltikum 9 – GESAMT 2964;
2. Diversanten: 495;
3. Terroristen: 2162;
4. Trotzkisten: 177;
5. Menschewiki: 9;
6. Sozialrevolutionäre: 3;
7. Anarchisten: 10;
8. Nationalisten: ukrainische 10495; weißrussische 160; georgische 16; armenische 27; aserbaidshanische 5; estnische 1521; lettische 1075; litauische 2935; moldauische 4; pantürkische 2; panislamistische 6; jüdische 55; polnische 510; ungarische 1 – GESAMT 16812;
9. Weißemigranten: 53;
10. Mitglieder anderer antisowjetischer Organisationen und Gruppen: aufständische 427; kirchliche und Sekten 594; profaschistische 458; andere Organisationen und Gruppen 1152 – GESAMT 2631;
11. Personen, die wegen antisowjetischer Kontakte und feindlicher Tätigkeit eine Gefahr darstellen: Flucht ins Ausland und zum Feind mit antisowjetischen Zielen 550; verantwortliche Funktionen im Dienst der Okkupanten 2588; Geheimagenten im Dienst der Okkupanten 2479; Beteiligung an Greueltaten und an der Auslieferung von Sowjetbürgern 3069; Überläufer aus dem Ausland mit unbekannten Absichten 4; sozial gefährliche Elemente mit Verbindung zu ausländischen Diensten 204; sozial gefährliche Elemente mit antisowjetischen Verbindungen 3862; ihrer Vergangenheit nach sozialgefährliche Elemente 34; Mitglieder militärischer faschistischer Formationen 473 – GESAMT 13263.
INSGESAMT 38579.

Wladislaw Hedeler und Horst Hennig (Hg.): Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Workuta im Sommer 1953, Leipziger Universitätsverlag 2007, 290 Seiten, 32 Euro