Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 27. Oktober 2008, Heft 22

Über den Rubikon

von Wolfgang Schwarz

Am 2. Oktober vermeldete die New York Times, die USA hätten soeben ein neues Kapitel in der Kooperation mit Indien aufgeschlagen: Der Senat habe einem Abkommen zugestimmt, das zivilen Nuklearhandel zwischen beiden Ländern gestatte.
Dieser Schritt bildete den Abschluß einer Entwicklung, durch die Indien – maßgeblich protegiert durch Washington – als erstem Staat der Aufstieg aus der nuklearen Illegalität in die Liga der anerkannten Atommächte gelungen ist. Damit wurde ein Präzedenzfall geschaffen, der das Zeug hat, als Auslöser einer Zeitenwende in die Geschichte einzugehen: Das fragile Regime des Atomwaffensperrvertrages könnte damit endgültig ausgehebelt und die nukleare Büchse der Pandora, die seit dem Abschluß dieses Vertrages zwar nie gänzlich, aber doch sehr weitgehend geschlossen war, könnte global geöffnet werden.
Der Atomwaffensperrvertrag (auch Non-Proliferation Treaty, Nichtweiterverbreitungsvertrag – NPT) wurde am 1. Juli 1968 von den USA, der Sowjetunion und Frankreich unterzeichnet. Er trat 1970 in Kraft. Zwischenzeitlich waren ihm 189 Staaten beigetreten, darunter – 1992 – auch Frankreich und China, die bereits zum Zeitpunkt der Erstunterzeichnung den Status von Atommächten hatten. Derzeit sind 188 Mitglieder am Atomwaffensperrvertrag beteiligt, nachdem Nordkorea, dessen nukleare Ambitionen seit längerem bekannt sind, im Jahre 2003 aus dem Vertrag ausgetreten war. Zu den Nichtunterzeichnerstaaten gehören die illegalen Atommächte Israel, Indien sowie Pakistan.
Ziel des Atomwaffensperrvertrages war und ist es, die Weiterverbreitung nuklearer Waffentechnologien über den Kreis der zum Zeitpunkt seines Abschlusses vorhandenen fünf »offiziellen« Nuklearmächte hinaus zu verhindern. Das dem Vertrag innewohnende Element der Diskriminierung – er verweigert allen anderen Staaten einen Status, den diese fünf bereits haben – war dabei stets mit dem übergeordneten Ziel zu rechtfertigen, eine atomare Selbstvernichtung der Menschheit zu verhindern. Überdies verpflichtet der Vertrag in Art. VI die Nuklearmächte ihrerseits zur atomaren Abrüstung – sein Ziel ist eine kernwaffenfreie Welt.
Natürlich kann man die Frage, ob der Atomwaffensperrvertrag seine Funktion nicht bereits verfehlt habe, mit Hinweis auf das nuklearen Ausscheiden Israel, Indien und Pakistan bejahen. Allerdings gab es in den vergangenen vierzig Jahren auch andere Schwellenländer an der Pforte zur Atommacht – unter anderem Südafrika und Brasilien –, die sich schließlich doch dem Vertragsregime angeschlossen und ihre entsprechenden Entwicklungsprogramme eingestellt haben. Alles in allem hat der NPT die Welt bisher vor einem Zustand nuklearer Anarchie mit einem unkalkulierbar höheren Atomkriegsrisiko bewahrt.
Nachdem Indiens erster Atomtest 1974 gezeigt hatte, daß das Land offenbar Materialien, die ihm von verschiedenen Staaten zur friedlichen Nutzung der Kernenergie geliefert worden waren, militärisch mißbraucht hatte, wurde eine weitere Sicherung im Vertragsregime geschaffen. Damals entstand die sogenannte Nuclear Suppliers Group, ein Gremium von Staaten, die zum Export nuklearer Technologien in der Lage sind. Die Nuclear Suppliers Group, die heute 45 Mitglieder umfaßt, verhängte seinerzeit über Indien ein Embargo, das auch die Lieferung jeglicher ziviler Nukleartechnologie einbezog.
Ausgangspunkt der jetzigen Entwicklung war eine Umbewertung Indiens in der globalen Strategie der Vereinigten Staaten, deren Anfänge bis zur Jahrtausendwende zurückreichen. Nachdem die USA auf dem indischen Subkontinent jahrzehntelang auf Pakistan als Hauptpartner gesetzt hatten, dieses Land sich aber zunehmend zum unsicheren, innenpolitisch instabilen und außenpolitisch illoyalen Kantonisten gewandelt hatte, erschien Indien als potentieller Partner und nicht zuletzt als Gegengewicht zu China in neuem Licht. Das manifestierte sich erstmals 2002 im Besuch des damaligen Präsidenten Bill Clinton in New Delhi und führte bereits 2005 zum Abschluß jenes eingangs erwähnten Abkommens, das nun im US-Senat die letzte Hürde genommen hat.
Eine wichtige Voraussetzung dafür war die Zustimmung der Nuclear Suppliers Group zur Aufhebung des Embargos gegen Indien, für die sich die USA in den vergangenen Jahren stark gemacht hatten und die schließlich Anfang September dieses Jahres einstimmig erfolgte – nach heftigem Gerangel hinter den Kulissen. So wollten die Mitglieder Irland, Neuseeland, Norwegen, Österreich und die Schweiz die Aufhebung des Embargos an drei Bedingungen knüpfen: Indiens Atomreaktoren sollten der Kontrolle der Internationalen Atomenergiebehörde unterworfen werden. Indien sollten Technologien, die zur Urananreicherung zu militärischen Zwecken geeignet sind, auch weiterhin verschlossen bleiben. Und schließlich sollte jeglicher Nuklearhandel nach einem erneuten Atomtest Indiens sofort unterbunden werden. Die USA haben sich diese Forderungen nicht zu eigen gemacht. So mußte Indien letztlich lediglich für 14 seiner 22 Nuklearreaktoren eine Kontrolle durch die Internationalen Atomenergiebehörde konzedieren. Die restlichen sind als militärisch ausgewiesen, und zu solchen Anlagen hat die Behörde grundsätzlich keinen Zugang.
Um Chinas Zustimmung zur Aufhebung des Embargos sicherzustellen, griff Präsident George W. Bush höchstselbst zum Telefon und sprach direkt mit dem chinesischen Staatschef und KP-Generalsekretär Hu Jintao. China stimmte letztlich ebenfalls zu. Welche Konzessionen Washington im Gegenzug angeboten hat, ist nicht bekannt.
Natürlich hat Washington auch Erklärungsmuster für seine Abkehr vom bisherigen Vertragsregime im Falle Indiens geliefert, die einerseits die Kehrtwendung kaschieren und andererseits das Verbotene als gerechtfertigt erscheinen lassen sollen. Indien, so heißt es, habe gezeigt, daß es verantwortungsvoll mit Atomwaffen umgehe. Mit dieser Erhebung des Ausscherens in den Adelsstand wird allerdings geflissentlich übersehen, daß das Land mit seinem Test von 1974 Pakistan den Vorwand lieferte nachzuziehen. Damit wurde die nukleare Rüstungsspirale auf dem Subkontinent in Gang gesetzt. Und mindestens im indisch-pakistanischen Krieg von 1999 haben beide Seiten wiederholt mit dem Atomwaffeneinsatz gedroht. Soviel zum Attribut »verantwortungsvoll«.
Ein anderes Argument Washingtons aber ist noch abenteuerlicher: Die jetzige neue Stufe der nuklearen Kooperation mit Indien könne das Land langfristig an den Atomwaffensperrvertrag heranführen. Dazu erübrigt sich ein Kommentar.
Bleibt als Fazit, daß potentielle nukleare Schwellenländer die Botschaft, die in der jetzigen Entwicklung liegt, sehr wohl verstehen dürften: Auf dem Weg zur Atommacht braucht es einen langen Atem – wer den aufbringt, schafft es irgendwann. Sollte Indiens Beispiel Schule machen, dann wäre der Rubikon zu einer Welt, die von nuklearen Krisen wie den aktuellen um Iran und Nordkorea geprägt wird, wohl endgültig überschritten.