von Uri Avnery, Tel Aviv
In unserem Land stehen sich zwei Visionen gegenüber, zwei Visionen, die so weit von einander entfernt liegen wie der Westen vom Osten. Auf der einen Seite das fortschrittliche Israel, modern, säkular, liberal und demokratisch, das in Frieden und in Partnerschaft mit Palästina lebt und ein integraler Teil der Region ist. Auf der andern Seite: ein fanatisches Israel, religiös, faschistisch, abgeschnitten von der Region und der zivilisierten Welt, ein Volk, das »abgesondert wohnt und sich nicht zu den Völkern rechnet« (4. Mose 23,9) und »wo das Schwert ohne Ende fressen soll?« (2. Samuel 2,26)
Vor zwei Wochen legten Extremisten dem Wissenschaftler Sternhell eine Rohrbombe vor die Haustür. Sein Forschungsgegenstand sind die Ursprünge des Faschismus, ein Thema, das auch mich mein ganzes Leben lang beschäftigt hat. Sternhell ist Akademiker, er schert sich nicht um Beliebtheit, und er scheut auch die Provokation nicht. Vor Jahren behauptete er in einem Artikel, daß die gewalttätige Reaktion der Palästinenser auf die Siedlungen ganz normal sei. Dadurch zog er sich die anhaltende Wut der Siedler und der extremen Rechten zu, die sich darum bemühte, ihn daran zu hindern, den Israel-Preis, Israels höchste Auszeichnung, entgegenzunehmen.
Wer legte die Bombe? Ein einzelner Täter? Eine Gruppe? Ein neuer Untergrund? Die Terroristen aus den Siedlungen? Israelischer Faschismus ist quicklebendig. Er wächst in einem Saatbeet, das schon in der Vergangenheit verschiedene national-religiöse Untergrundgruppen hervorbrachte: die Gruppe, die die Heiligen Stätten des Islams auf dem Tempelberg zu zerstören versuchte; den Untergrund, der die palästinensischen Bürgermeister umzubringen versuchte; die »Kach«-Bande; den Täter des Hebron-Massakers Baruch Goldstein; den Mörder des Friedensaktivisten Emil Gruenzweig; den Mörder von Yitzhak Rabin und all die Untergrundgruppen, die rechtzeitig entdeckt wurden und deshalb gar nicht in der Öffentlichkeit bekannt wurden.
Die spirituellen Führer sind meistens »Rabbiner«, die das entsprechende Weltbild und die praktische Anwendung formulieren. Diese jüdischen Götzendiener arbeiten nicht im Geheimen – im Gegenteil. Sie bieten ihre Waren offen auf dem Markt an.
Dieser Sektor ist in den »ideologischen Siedlungen« konzentriert. Das heißt nicht, daß alle Siedler Faschisten sind. Aber die meisten Faschisten sind Siedler. Sie sind konzentriert in bestimmten Siedlungen. Zufällig – oder auch nicht zufällig – liegen alle diese Siedlungen mitten in der Westbank, jenseits der Trennungsmauer. Die ersten von ihnen wurden mit Hilfe des »Linken« Yigal Allon im Raum Hebron und im Raum Nablus mit Hilfe des »Linken« Shimon Peres errichtet.
Während der letzten Monate haben sich die Vorfälle stark vermehrt, bei denen die Siedler Palästinenser, Soldaten, Polizisten und »Linke« angriffen. Die Sprecher des Sicherheitsestablishments und die Kommentatoren versuchen, ausgewogen zu klingen, und sprechen über »Aufrührer von links und rechts«. Das ist ein Beispiel für Pseudo-Objektivität, das selbst wiederum aus dem faschistischen Trickarsenal stammt. Jeder, der die Geschichte des Nazismus kennt, kennt auch die schändliche Rolle, die die Gerichte und Polizeibehörden in der deutschen Republik gegenüber Gesetzesübertretern gespielt haben, deren erklärtes Ziel es war, dem demokratischen System ein Ende zu bereiten. Die Richter verhängten lächerlich leichte Strafen für Nazi-Aufrührer, die sie als »fehlgeleitete Patrioten« betrachteten, während kommunistische Aufrührer als ausländische Agenten und Verräter bestraft wurden.
Nun erleben wir dieses Phänomen hier. Die das Gesetz übertretenden Siedler erhalten symbolische Strafen, während die Palästinenser für viel geringere Straftaten harte Strafen erhalten. Selbst ein Siedler, der seinen Hund auf einen Kompanieführer hetzt, oder ein Siedler, der einem Bataillonchef die Knochen bricht, geht heutzutage straffrei aus.
Das interne Armee-Justizsystem kann nur noch als monströs bezeichnet werden: Der Kommandeur, der eine blutende, in starken Wehen befindliche Frau am Kontrollpunkt aufhielt, was den Tod des Neugeborenen verursachte, wurde mit zwei Wochen Arrest bestraft. Der Kommandeur, der einem Soldaten befahl, einem gefesselten palästinensischen Gefangenen ins Bein zu schießen, wurde »versetzt«, was bedeutet, daß dieser Kriegsverbrecher in einer anderen Einheit dienen kann.
Deuten das Anwachsen und die Schwere der Vorfälle auf ein Anwachsen des israelischen Faschismus hin? Auf den ersten Blick könnte man diesen Eindruck bekommen. Doch nach längerem Nachdenken glaube ich, daß das Gegenteil der Fall ist. Die fanatischen Siedler wissen inzwischen, daß sie die öffentliche Meinung nicht mehr hinter sich haben und daß die normalen Bürger sie für Schlägertypen halten.
Das israelische Establishment wünscht, das Land zwischen der Mauer und der Grünen Linie zu annektieren, und ist bereit, dafür den Palästinensern israelische Gebiete zu geben. Was bedeutete dies für die Siedler? Die meisten von ihnen leben in Siedlungen nahe der Grünen Linie, die nach diesem Konzept Israel angeschlossen werden sollen. Dies sind – nicht zufällig – die nicht ideologisierten Siedler. Ihnen ging es um billige Wohnungen und um »Lebensqualität« – nicht weit von Tel Aviv oder Jerusalem entfernt. Diese Siedler werden wahrscheinlich einem Frieden zustimmen, der sie innerhalb Israels beläßt. Die große Mehrheit der extremen Siedler hingegen lebt in kleinen Siedlungen östlich der Mauer, und die müßten bei einer Friedenslösung aufgelöst werden.
Ich glaube nicht, daß Faschismus in unserer Gesellschaft die Oberhand bekommt.. Ich bin von der Stärke unserer israelischen Demokratie überzeugt. Aber wenn ich in eine Ecke gestoßen und gefragt werden würde: »Kann dies auch uns passieren?« Dann wäre ich verpflichtet zu sagen: »Ja, es ist möglich.«
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, redaktionell gekürzt
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