Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 15. September 2008, Heft 19

Die Bossa Nova wird fünfzig

von Klaus Hart, São Paulo

In Brasilien wird 1958 ein neuer Musikstil geboren und macht Weltkarriere: João Gilberto, der Bossa-Nova-Papst, bringt die ersten beiden Hits heraus. Kurioserweise erreicht die Bossa Nova nie im Tropenland selbst durchschlagenden Erfolg, andere Rhythmen wie Sertaneja und Rock sind stets populärer. Nur dank starker Nachfrage aus Europa und Japan gibt es eine neue brasilianische Generation von Bossa-Nova-Musikern.
Ende 1957 treten in einer kleinen Copacabana-Bar hochtalentierte Musiker auf, nennen sich Bossa-Nova-Gruppe und spielen, wie es in den Ankündigungen heißt, moderne Sambas. Im Jahr darauf hören sich Musikmanager der großen Plattenfirma Odeon in São Paulo eine Probepressung zweier neuer Titel von João Gilberto an und reagieren wütend. »So ein Mist, den man uns da aus Rio schickt.« Die Vinyl-Single wird zerbrochen, weggeworfen – die beiden Titel, Chega de Saudade (Schluß mit der Sehnsucht), ein wunderschönes, als »Samba-Cançao« deklariertes Liebeslied von Komponist Tom Jobim und Texter Vinicius de Morais sowie das schlichte Bim-Bom von João Gilberto, markieren indes den Beginn der Bossa Nova. Sie werden zu Klassikern. Den internationalen Durchbruch schafft die Bossa Nova aber erst mit dem berühmten Musikfilm Orpheu Negro, der 1960 einen Oscar bekommt. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Bossa Nova ist natürlich Samba, wie Brasiliens Experte Ruy Castro in seinem Buch Chega de Saudade betont: »Bossa Nova ist nur eine von dreißig Varianten, Spielarten des Sambas – von den übrigen 29 haben Gringos höchstwahrscheinlich noch nie etwas gehört.«
Bizarre Legenden und Anekdoten ranken sich vor allem um das erste Bossa-Nova-Jahrzehnt, zum Beispiel um das Konzert von Tom Jobim, João Gilberto, Carlos Lyra und anderen Bossa-Nova-Größen 1962 in der New Yorker Carnegie Hall. Organisiert von der brasilianischen Regierung und einer US-Plattenfirma, wird es bis heute meist glorifiziert – nicht wenige Rio-Musiker erlebten es indessen als grauenhaft und chaotisch, als Reinfall. Carlos Lyra erinnert sich: »Da herrschte ein unglaubliches Durcheinander, da stiegen einfach Leute zu uns auf die Bühne und spielten, was ihnen gerade einfiel, improvisierten Jazz-Akkorde. Ich war so irritiert, daß ich zu Tom Jobim sagte: Laß uns abhauen, das Konzert ist doch eine Schande! Aber Tom Jobim war ängstlich und sagte: Du hast doch auch den Konzertvertrag unterzeichnet – deshalb bleiben wir besser hier und ziehen das durch.« Carlos Lyra schreibt einen Titel namens Influencia do Jazz – just gegen die Vereinnahmung des Sambas, der Bossa-Nova durch nordamerikanischen Jazz. Und Tom Jobim weist lauthals zurück, daß Bossa Nova doch im Grunde Jazz sei. »Das stimmt überhaupt nicht, was uns diese puristischen Musikkritiker da vorwerfen. Bossa Nova hat überhaupt nichts mit dem Jazz zu tun, sondern ist originär typisch brasilianisch. Das muß man anerkennen. Vielmehr hat sich der Jazz bei der Bossa Nova bedient!«
In gespannter, teils feindseliger Atmosphäre nehmen 1963 Stan Getz und João Gilberto mit Kollegen in New York eine der bis heute meistgerühmten Bossa-Nova-LPs auf – zudem die meistverkaufte Jazzplatte aller Zeiten. Denn wie Getz Bossa Nova interpretiert, ist für Gilberto viel zu laut, zu unsensibel. »Tom, sag diesem Gringo, daß er ein Dummkopf ist.« Doch Tom Jobim übersetzt sicherheitshalber falsch: »Er sagt, daß es eine Ehre ist, mit Ihnen hier zu arbeiten.« Getz: »Eigenartig, es klang so, als hätte er völlig anderes gesagt.« Der Jazzer, gewöhnlich explosiv und grauenhaft gegenüber Kollegen, bleibt selbstkontrolliert, sieht in der Bossa Nova eine riesige Karrierechance. Später, beim Mixen der Platte, ohne die Brasilianer im Studio, produziert er seine Soloparts entgegen den mit Gilberto getroffenen Absprachen übermäßig laut – was ihm dieser nie verzeiht. Stan Getz wird durch die Platte reich, kauft sich eine 23-Zimmer-Villa. João Gilberto bekommt gerade einmal 23000 Dollar ab, Astrud Gilberto für die berühmte Version des Girl from Ipanema gar nur 168 Dollar. Getz findet die Brasilianerin völlig überbezahlt, regt sich gar darüber auf. Worauf, wie es heißt, der große Tenorsaxophonist Zoot Sims in New York konstatiert: »Gut zu wissen, daß Stan der Erfolg nicht verändert hat. Er ist derselbe Hurensohn wie immer.« Garota de Ipanema zählt mit Yesterday von Lennon/McCartney zu den beiden meistgespielten Titeln des vergangenen Jahrhunderts.
1999 geschieht etwas Unfaßbares, doch für den Zeitgeist Brasiliens sehr Bezeichnendes – ausgerechnet João Gilberto wird bei einem Konzert in São Paulo vom Publikum ausgepfiffen, ausgebuht. Gilberto beschwert sich über die schlechte Aussteuerung, verlangt von den Tontechnikern Änderungen – Bossa Nova ist schließlich kein Hard-Rock. Ungläubig fragt er das Publikum, ob es sich hier um Zustimmung oder Ablehnung handele. Wieder Pfiffe und Buhrufe – worauf João Gilberto die Gitarre nimmt und nach Hause geht. Der Weltstar der Bossa Nova gilt nichts mehr im eigenen Land. João Gilberto lebt in Rios Nobel-Strandstadtteil Leblon. Die allermeisten Bewohner seines Penthouse haben den Einsiedler bisher nie zu Gesicht bekommen – niemals wird er in Restaurants, Bars, Konzerten gesehen. »Manche tibetanische Mönche«, so lästert Bossa-Nova-Experte Ruy Castro, führten dagegen ein geradezu spektakuläres Nachtleben. Schlagzeilen macht, daß sich Gilberto im 50. Jahr der Bossa Nova wenigstens zu vier Konzerten in Rio, São Paulo und Salvador da Bahia herabläßt. Schmerzhaft, daß heute in Rio de Janeiro, und an der Copacabana erst recht, die Bossa Nova beinahe ausgestorben ist. Carlos Lyra bitter-drastisch: »Landet heute jemand in Rio und fragt, wo man Bossa Nova hören kann, lautet die Antwort. Die ist hier nicht mehr zu hören.«