Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 4. August 2008, Heft 16

Haifischbecken Arbeitsplatz

von Vitense Parber

Die deutsche Geschichte hat ihr eigentliches Geheimnis im Untertan. Heinrich Mann sezierte einst meisterlich das nach oben Buckeln und nach unten Treten des deutschen Kleinbürgers – kurz vor dem Ersten Weltkrieg, auf dessen Schlachtfeldern die Untertanenwelt dann verbrannte. Weimar war dem Untertan ein Graus. In die Freiheit verstoßen, durch die Inflation enteignet, in jeder Hinsicht entgrenzt, bedurfte es eines Dutzend Jahre, bis er seine neue Rolle fand – in Hitler, dem Prototypen des kalt stehengelassenen Untertanen. An dem kaisertreuen Kunst-maler zeigte sich, was geschieht, wenn führungslos gewordene Untertanen ihre eigene Führung übernehmen. Da ihnen alles genommen war, was je ihr Selbstverständnis ausgemacht hatte, fühlten sie sich berechtigt, alle moralischen Fesseln abzustreifen und frei von Skrupeln an anderen ihre Minderwertigkeitskomplexe abzuarbeiten – ein Weg, den Menschen aus ganz Europa, nicht zuletzt die europäischen Juden mit dem Leben bezahlten.
In der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 verschwand dieser entfesselte Untertan unter den Mitläufern und deklarierte sich zum Opfer der Sieger, das sich nun – in West wie Ost – im konkurrierenden Wiederaufbau eine etwas friedfertigere Selbstverwirklichung suchte.
Heute befinden wir uns in Runde zwei der Untertanengeschichte. Denn die neoliberalen Freiheitsversprechen haben sich längst als eine gesellschaftszerstörende Perversion degenerierter Asozialer entpuppt, die die Menschheit im Interesse der Profitmaximierung in die Barbarei des Jeder-gegen-jeden zurückstoßen. Wer unten ist, dem darf auch der Rest an Würde genommen werden. Sozialpartnerschaft ist heute ein Fremdwort aus der Mottenkiste des Kalten Krieges, als dem sozialismusdiskreditieren-den Osten so lange etwas vorkonsumiert wurde, bis auch dort eine Mehrheit den totalen Konsum der Suche nach einem wirklichen Leben vorzog.
Der Ort, an dem der neoliberal deformierte Mensch zugerichtet wird, ist der »Job« – also etwas, über das immer weniger Menschen verfügen. Hier wird der neue Untertan geformt. Die Bild-»Zeitung« hat dazu am 15. Juli im »Ratgeber Geld und Karriere« in dankbar schamlosester Weise die letzte Maske fallengelassen – mit »10 Regeln, mit denen Sie Karriere machen«. Den folgenden Auszug sollte man nicht auf nüchternen Magen an sich heranlassen, denn es handelt sich nicht um eine Parodie:
»Es wird gemobbt, fiese Gerüchte werden gestreut und jeder kämpft gegen jeden um das Wohlwollen vom Chef: Haifischbecken Arbeitsplatz!
BILD-Autor Hauke Brost (59) sprach mit Sekretärinnen, Angestellten – und vielen Chefs.
Seine besten Tricks fürs ›Überleben im Haifischbecken‹ druckt BILD in einer neuen Serie.
1. Früher kommen!
Immer vor den anderen am Schreibtisch sitzen. Erstens schaffen Sie mehr weg. Zweitens wirkt das auf Kollegen gefährlich (›Was macht der so früh hier?‹). Drittens sind Sie, wenn der Chef erscheint, sein erster Ansprechpartner. Und viertens können Sie sich die Rosinen aus dem Kuchen picken (z. B., wenn die Post schon da ist oder wenn schon morgens ›die Hütte brennt‹).
2. Gleichzeitig nicken und Kopfschütteln lernen!
Sie brauchen diese Kopfbewegung, wenn jemand einen ungewöhnlichen Vorschlag macht und der Chef noch zögert. Schlagen Sie sich niemals vorschnell auf eine Seite! Erst einige Sekunden abwarten, aus welcher Richtung der Wind bläst. So lange ›nick-schütteln‹.
3. Auf Kleinigkeiten achten!
Beobachten Sie Ihren Boss, wenn ein Kollege etwas vorträgt. Verdreht er die Augen, blättert in Papieren usw.? (Kollege ›im Verschiss‹.) Oder hört er entspannt zu, Oberkörper zum Kollegen gewandt? (Dann hat der gute Karten – und Sie sollten ihm laut beipflichten.)
4. Immerzu laufen!
Gehen Sie niemals langsam über die Flure und nie an der Wand entlang. Stürmen Sie sozusagen auf dem Mittelstreifen! Kopf hoch, Kinn nach vorn. Das signalisiert: ›Der ist wichtig! Wahrscheinlich hat er einen Auftrag von ganz oben.‹ Und gehen Sie immer so, daß andere Ihnen Platz machen müssen.
5. Jeden Tag eine fiese Tat!
Das klingt gemein, aber so macht man Karriere. Einen Kollegen pro Tag sollten Sie öffentlich kritisieren und einen anderen in den Himmel loben. Schon bald werden alle Ihre Nähe suchen und Sie für einen Füh-rungstyp halten – der Sie dann auch bald sind.«
Bei dem Menschentyp, der hier gezüchtet werden soll, wünscht man sich beinahe Heinrich Manns Untertan zurück. Bleibt die Frage: Wozu werden diese Untertanen fähig sein, wenn sich das für sie nicht auszahlt?