Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 18. August 2008, Heft 17

Böhmischer Sommer 1968

von Werner Abel

Nichts hatte in jener Nacht zum 21. August 1968 im kleinen Dörfchen Kundratice auf der böhmischen Seite des Erzgebirges darauf hingedeutet, daß am folgenden Morgen die Welt verändert sein würde. Wie schon so oft in jenem Frühjahr und Sommer waren wir zu Besuch bei unseren Freunden Alma und Rudolf, sahen die Veränderungen in der Politik, in der Gesellschaft, diskutierten die Möglichkeiten und Chancen und berauschten uns an Erwartungen, denn der Aufbruch zu einem neuen, anderen, besseren Sozialismus schien das viel beschworene Brudervolk zu einen, gewaltig war die Zustimmung, und keinem kam es in den Sinn, dieser lang ersehnte Prozeß könne umkehrbar sein.
Dabei war die Bedrohung spürbar, nicht nur verbal mahnten die »Bruderparteien« vor dem Verlassen des richtigen, also des sowjetischen Weges. Die handfeste Warnung konnte jeder sehen, der zur tschechischen Grenze durch die waffenstarrenden Wälder Sachsens fuhr. An simple Manöver glaubte niemand, und trotzdem schien es unvorstellbar, daß sich eine gewaltige Kampfmaschine in Bewegung setzen und den Emanzipationsversuch eines Volkes niederwalzen könnte, wie es schon einmal 1956 in Ungarn geschehen war.
Der Morgen des 21. August belehrte uns eines Besseren. Geweckt von den Freunden, sahen wir die Tränen in ihren Augen, Zeichen der Trauer und des Zorns, denn zertreten war ein Traum. Aus dem Radio ertönte eine sich immer wiederholende Melodie, die uns seltsam feierlich und auf eine eigenartige Weise der Situation angemessen vorkam. Wie 1938 beim Überfall, sagte Alma, da haben sie auch ununterbrochen unsere Hymne, die ganze Zeit Kde domov muj (Wo ist meine Heimat?) gespielt. Und wir wissen noch sehr gut, was das bedeutete, was danach kam.
Das Wort »Okkupation«, wir sollten es in den nächsten Tagen noch oft hören. Bisher bezeichnete es den nazideutschen Überfall auf die erste Tschechische Republik, und wir verstanden erschrocken, wie tief das getroffen hatte, was jetzt eingetreten war.
Dieses Mal, sagte Alma weiter, sind es nicht die Faschisten, aber die Deutschen, eure Truppen sind wieder dabei. Dabei wollten wir doch nur einen Sozialismus, der diesen Namen auch verdient. Kennt ihr ein anderes sozialistisches Land, wo es so viel Freiheit gibt wie bei uns, und vor allem eine solche Einheit zwischen dem Volk und der Führung?
Wir waren betroffen, denn das Wort »ihr« betonte eine plötzliche, unverdiente Distanz, eine Distanz die schmerzte, die es zuvor weder gegeben hatte noch eigentlich hätte geben können, denn unsere Freundschaft resultierte nicht aus einer zufälligen Bekanntschaft, sondern hatte politische Wurzeln. Unsere Freunde, Kommunisten schon in der Vorkriegszeit, konnten nach ersten Repressionen durch das Besatzungsregime 1938 ins Ausland fliehen und sich einer Gruppe sudetendeutscher Antifaschisten, die ins englische Exil gelangte, anschließen. Zu dieser Gruppe gehörte auch der Bruder meiner Mutter. Zwischen den Emigranten entstand jene Freundschaft, die sich später, nach dem Kriege, auch auf die Kinder und Verwandten ausweiten sollte. Alma war schon im Mai 1945 nach Böhmen zurückgekehrt, sie wurde als Krankenschwester bei der Auflösung des Konzentrationslagers Theresienstadt gebraucht. Schreckliches hat sie aus dieser Zeit erzählt. Rudolf kam im November, er wollte wieder in der Fabrik arbeiten und vor allem mit seiner Alma und den überlebenden Genossen von früher politisch aktiv sein.
Der Wahlerfolg der Kommunistischen Partei 1946 war auch ihr Erfolg, das, wofür sie gekämpft und gelitten hatten, schien zum Greifen nah zu sein. Aber schon bald sollten sich Schatten auf die Freude und Zuversicht legen, die »Westemigration« wurde mehr und mehr zum Makel in der Biographie, alte bewährte Kommunisten waren plötzlich Verräter, eine lähmende Angst durchdrang Partei und Gesellschaft, niemand schien davor gefeit zu sein, als Trotzkist, Titoist, Zionist oder Nationalist gebrandmarkt zu werden. Viel später schenkten sie mir Zeitungen aus dieser Zeit, darunter Für dauerhaften Frieden, für Volksdemokratie, das deutschsprachige Blatt des Kommunistischen Informationsbüros. Von der Angst und Unruhe sprachen die Anstreichungen und die verschlüsselten Kommentare. Eigentlich hätten sie das vernichten wollen, zu gefährlich sei ihnen das Aufheben vorgekommen; aber da waren doch trotzdem die Erinnerungen, die konnte man weder wegwerfen noch vergessen. Die Erinnerungen, das waren auch die alten Genossen Bedrich Geminder und Ludvik Frejka, letzterer hatte in England oft von der baldigen Rückkehr in die Heimat gesprochen: Schwer würde es werden, aber eine herrliche Zukunft der Lohn. Die Zukunft aber für Bedrich und Ludvik wurde der Galgen, angeklagt im Slánsky-Prozeß, bezichtigten sie die eigenen Genossen der schlimmsten Verbrechen. Der Druck in der Brust und die Angst wuchsen. Hatte man nicht immer für Otto Katz geworben, den genialen Organisator und Journalisten an der Seite Willy Münzenbergs, nunmehr als André Simone gehängt nach der Verurteilung im gleichen Prozeß? Es war nicht mehr unsere Partei, aber wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben, der Austritt wäre die andere Seite der Barrikade gewesen, sagten beide. Versteht Ihr jetzt, was das Jahr 1968 für uns bedeutet? Novotny, die alte Parteiführung, die Schuldigen an den Morden in den fünfziger Jahren waren weg, und wir hatten fest geglaubt, es gäbe kein Zurück mehr.
Alma und Rudolf bemerkten mit jener seltsamen Sensibilität von Menschen, die Schweres durchlitten haben, unsere Betroffenheit und Verzweiflung. Sie, die eigentlichen Opfer, baten um Verzeihung, das schmerzende »Eure Truppen« sei natürlich ein Fehler gewesen, der Erregung geschuldet, wir sollten doch noch einige Tage bleiben, das, was wir hier erlebten, würde wahrscheinlich einmalig im Leben sein. Und überhaupt wisse man im Augenblick nicht, wie man zur Grenze gelange und ob die überhaupt passierbar wäre.
Also fuhren wir mit Alma und Rudolf nach Most (Brüx), ihre Kinder hatten angerufen, wir sollten so lange, wir wollen, doch bei ihnen bleiben. Die Altstadt von Most hatte der Braunkohle weichen müssen, eine neue Stadt war aus Plattenbauten geformt worden. Diese Stadt war nun in Aufruhr, auf den Straßenkreuzungen standen sowjetische Posten, demonstrativ mißachtet von den Tschechen, die erregt miteinander diskutierten und wie süchtig nach den Flugblättern griffen, die wie durch Geisterhand verteilt allerorts auftauchten. Rudolf holte mir von einem der überall stehenden Tische voller Materialen ein schmales Heftchen in deutscher Sprache, das legendäre Aktionsprogramm der KPC. Die Orientierung auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, diese mit Stolz vorgetragene Absicht der tschechischen und slowakischen Reformer, sollte auch von deutschen Interessenten und Sympathisanten gelesen werden können. Dafür hatten die österreichischen Kommunisten gesorgt, die diese Broschüre druckten, und das sei, so sagte uns Rudolf, im Gegensatz zu dem, was die Russen hier anrichten, wahrhafter sozialistischer Internationalismus.
Am Abend standen wir vor der Kaserne, einem Gebäude noch aus der k.u.k.-Monarchie. Eigentlich herrschte Ausgehverbot, aber hin und wieder kamen Uniformierte durchs Tor und sprachen mit den Passanten, die hier nicht zufällig spazierten, sondern gespannt darauf waren, wie die Armee reagierte. Vor den Kasernenmauern fuhr ein kleiner älterer sowjetischer LKW auf und ab. Plötzlich begann der Motor zu stottern, und der Wagen blieb stehen. Vier Soldaten stiegen aus, öffneten die Motorhaube, aber trotz ihrer Bemühungen blieb der Motor stumm. Nach längerer Zeit kam ein sowjetischer Jeep, zwei Offiziere entstiegen ihm, redeten mit den Soldaten, nahmen deren Waffen an sich und fuhren davon. Die Soldaten drängten sich in die Fahrerkabine und schlossen die Türen. Es war still im unwirklichen Schein der Neonlampen.
Nach einer Weile näherte sich ein tschechischer Soldat zögernd dem LKW, klopfte an die Scheibe, ein zweiter folgte ihm. Die Tür öffnete sich, und die sowjetischen Soldaten stiegen aus. Immer mehr Menschen sammelten sich um den Wagen, man redete aufeinander ein. Auch Rudolf ging zu ihnen und kam aufgeregt zurück. Sie haben ihnen die Waffen abgenommen, sagte er, damit sie nicht schießen können, wenn sie angegriffen werden. Was denken die eigentlich von uns? Wir sind doch keine Konterrevolutionäre!
Inzwischen war die Motorhaube geöffnet worden, so viele Menschen haben vermutlich noch nie einen defekten Motor begutachtet. Ein tschechischer Soldat schlug plötzlich einem sowjetischen Soldaten auf die Schulter, zeigte in den Motorraum, beide krochen förmlich hinein, und als sie sich aufrichteten und dem Chauffeur das Zeichen zum Starten gaben, sprang der Motor unter dem Beifall der Umstehenden wieder an.. Eigentlich, so übersetzte Rudolf den tschechischen Soldaten, müßten wir jetzt einen trinken. Das, so dachte ich mir, hätte Alexander Twardowski nicht erfinden können: Josef Schwejk trifft Wassili Tjorkin! Am darauf folgenden Tag sagte man uns, der Eisenbahnverkehr habe sich wieder normalisiert. Wohl konnte man überall deutsche Busse sehen, mit denen die Bundesrepublik ihre im Urlaub überraschten Bürger einsammelte, aber die DDR hatte andere Sorgen.
Ihre »Organe« befragten die oft mit Mühen an die Grenze Gekommenen nach konterrevolutionärem Schriftgut. Was damit gemeint sei, fragte ich verkrampft unschuldig schauend – besorgt um das Schriftgut unterm Hemd. Alles, was in der CSSR gedruckt wird, war die Antwort. Der heftig auf der anderen Seite gestikulierende und seit zwei Tagen auf uns wartende Schwiegervater lenkte das Grenzorgan ab, und wir durften passieren.. Die Konterbande war gerettet, aber die Geschichte läßt sich wohl nicht überlisten. Ein Dutzend Jahre später wurde mir die Sammlung von Aktionsprogramm, Plattform der 2000 Worte und Flugblättern ebenso zum Verhängnis wie die Tatsache, daß meine Frau und ich während der Fahrt zur Grenze auf dem Bahnhof in Teplice einen Aufruf für Dubcek und Svoboda, jene Helden des Krieges gegen Nazideutschland und jetzt so halsstarrigen Kontrahenten ihrer früheren Verbündeten, unterschrieben hatten. Dafür bekamen wir je einen Anstecker in den tschechischen Farben und waren stolz auf die freundlichen Blicke der Einheimischen, die wir immer wieder bis zur Grenze zu verspüren glaubten.
Nicht ahnen konnten wir, daß die Listen mit den Unterschriften erhalten blieben und später wohl auch den befreundeten Diensten übergeben wurden. Das Untersuchungsorgan in Karl-Marx-Stadt hielt mir zwölf Jahre später den konterrevolutionären Akt der Solidarität genau so vor wie es die genannte Sammlung von Schriften der tschechoslowakischen Kommunisten als Beweis für meine staats- und parteifeindliche Gesinnung wertete.
Im Herbst 1968 begann ich mein Studium an der Leipziger Karl-Marx-Universität. An einer Universität mit diesem Namen, so dachte ich, wird man mich aufklären, worum es eigentlich wirklich in der CSSR gegangen war. Tatsächlich gab es eine einführende Woche, aber im Mittelpunkt stand die erfolgreiche Politik der DDR und der Sowjetunion – oder umgekehrt? Nur einmal kam ein Instrukteur der Bezirksleitung, der uns Studenten davon zu überzeugen versuchte, daß diese brüderliche Aktion notwendig gewesen sei. Vieles sagte er, das auch in den Zeitungen zu lesen war, aber dann hörten einige doch aufmerksamer hin: Alles habe auch damit begonnen, so argumentierte er, daß die Ideen des berüchtigten Prager Revisionisten »Frantischek Gafka« erst die »Intelligenzler« und dann die ganze tschechoslowakische Gesellschaft antisozialistisch und antisowjetisch beeinflußt hätten. Der Mann hat mir noch nach Jahren leid getan.