Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 21. Juli 2008, Heft 15

Transformation des historischen Bewußtseins

von Jochen Mattern

Bedeutende Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. 2009 ist ein sogenanntes Superwahljahr. Mehrere Landtagswahlen und die Bundestagswahl stehen ins Haus. Sie fallen mit dem zwanzigsten Jahrestag der Wende zusammen, der sogenannten friedlichen Revolution in der DDR. Es mag ein zufälliges Zusammentreffen sein.
Zwar bieten historische Jubiläen die Gelegenheit, über die moralischen und politischen Grundlagen des Gemeinwesens nachzudenken, doch oft sind sie nur Anlaß für geschichtspolitische Kampagnen zur Legitimierung aktueller politischer Zwecke. Solche Kampagnen zeichnen sich bekanntlich nicht durch eine unvoreingenommene und kritische Reflexion des Vergangenen aus, sondern durch eine von (partei)politischen Interessen geleitete Wahrnehmung der Geschichte. Dafür scheint das Thema »doppelte Diktaturerfahrung« sehr geeignet, zeugt doch der rituelle öffentliche Gebrauch dieser Formulierung nicht von dem Willen zur Differenzierung, sondern zur Gleichsetzung. Sie bringt recht verschiedenes auf einen abstrakten Nenner, so daß das NS-Regime und die DDR unterschiedslos als totalitäre Diktaturen erscheinen. Die jeweiligen Besonderheiten beider politischer Systeme geraten dabei aus dem Blick. Das Ergebnis: Dämonisierung der DDR auf der einen, Relativierung der NS-Geschichte auf der anderen Seite.
Mit der Formel von der »doppelten Diktaturerfahrung« ändern sich »Interpunktion« und Bedeutungsgehalt der Zeitgeschichte (Habermas). Nicht die Zäsur des Jahres 1945, sondern die von 1989 wird in den Mittelpunkt des kollektiven Gedächtnisses der Berliner Republik gerückt: Der Sturz der SED-Diktatur im Jahr 1989 beende die Epoche des Weltbürgerkrieges, die 1917 begonnen habe. Den Sieg im Kampf der Ideologien und politischen Systeme trage die liberale Demokratie davon und stehe fortan weltweit beispiellos da. Ein Umstand, der belege, daß die Geschichte in ihr Endstadium eingetreten ist. Übrig bleibe als Aufgabe lediglich, der Demokratie zur weltweiten Verwirklichung zu verhelfen. Zur Erreichung dieses Zieles scheint für Demokraten selbst Krieg gerechtfertigt zu sein.
Und weiter: Zum Sieg im Weltbürgerkrieg hätten die Deutschen mit der Überwindung der Teilung und der »Wiederherstellung der Einheit« ihren Teil beigetragen. Damit sei die um die DDR erweiterte Bundesrepublik zur nationalstaatlichen Normalität zurückgekehrt. Den neuen politischen, insbesondere außenpolitischen Gegebenheiten habe die Berliner Republik Rechnung zu tragen. Ein negativ gestimmtes Gedächtnis, das die Identifikation mit der nationalen Geschichte und Kultur verwehrt, erweist sich für die Erfüllung der neuen politischen Herausforderungen als ungeeignet.
Auschwitz, Ausdruck einer mit Zivilisation fabrizierten Barbarei, verweigert jedoch jedwede Einfühlung in die Geschichte. Dieser Zivilisationsbruch nötigt im Gegenteil stets aufs neue zur Überprüfung vergangenen und gegenwärtigen Handelns. Er fordert zur Katharsis heraus und gestattet nur eine gebrochene Identität. Die aber steht der wiedererlangten »Normalität« der Bundesrepublik entgegen.
Deshalb soll durch die Umstellung des kollektiven Gedächtnisses auf die Epochenzäsur 1989 die Vorstellung von Geschichte als kritischer Instanz endlich überwunden werden. So soll sich die Berliner Republik von einer fragmentierten Auffassung verabschieden, die die Abgründe und Brüche der Geschichte nicht glattbügelt. Zur Stärkung des neuen Nationalbewußtseins werden Traditionsbewahrung und historische Kontinuität in das öffentliche Bewußtsein gerückt.
Das wiedererwachte Interesse an Kontinuität und Tradition wird nicht zuletzt durch die Errichtung des Einheits- und Freiheitsdenkmals auf dem Sockel des alten Wilhelminischen Nationaldenkmals in Berlin symbolisiert. Denn nun seien wieder Stolz auf das Vergangene sowie Nachahmung geboten.
Daß abermals die Einheit der Deutschen vor der Freiheit rangierte und die republikanische Neugründung, die sich in einer Verfassung manifestiert, ausgeblieben ist, wird zur historischen Fußnote verdrängt. Und der Nationalsozialismus fällt endgültig der Geschichte anheim.