Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 21. Juli 2008, Heft 15

Es lebe der kleine Unterschied

von Wolfgang Sabath

Jüngst erschien in der Berliner Zeitung ein Beitrag über die SS-Division »Dirlewanger« und erneute Bemühungen polnischer Behörden, letzte noch Lebende dieses himmlerschen Mordbrennerhaufens, der sich besonders bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands »hervorgetan« hatte, vor den Kadi zu bekommen. Dem Autor unterläuft der Satz: »Die polnische Heimatarmee kämpfte seit dem 1. August 1944 darum, die Hauptstadt noch vor dem Einmarsch der Roten Armee von den deutschen Besatzern zu befreien.« Dieser Satz ist so richtig, wie er nach den derzeit gültigen Maßstäben der Political Correctness einen Fauxpas darstellt. Zwar ist sich die seriöse Historiographie (einschließlich ihrer polnischen Vertreter) längst darüber einig, daß der Aufstand ohne Abstimmung mit der Londoner Exilregierung absichtlich vorzeitig ausgelöst wurde, um – wie der Autor auch in seinem Artikel anmerkt – vor den sowjetischen Truppen Warschau zu befreien, auch um so für die politische Nachkriegsentwicklung über ein Faustpfand zu verfügen, und obwohl seine antisowjetische beziehungsweise antikommunistische Stoßrichtung unbestritten ist, gehört es inzwischen geradezu zum »genetischen Fingerabdruck« polnischer Alltagskultur und Geschichtsschreibung, daß sich moralisch entrüstet wird – weil »die Russen«, wie heutzutage wieder unbefangen gesagt und geschrieben wird, während des Aufstandes absichtlich am östlichen Weichselufer verharrten und ihn nicht unterstützten.
Das Faktum ist unbestreitbar – verlogen indes ist die Empörung. Denn, fragt sich der aufmerksame Zeitungsleser von heute verwundert, längst eingeweiht und firm in Fragen weltüblicher Großmachtpolitik jedweder Provenienz, warum sollten denn, bitte sehr, die Russen damals einen Aufstand unterstützen, der eindeutig auch gegen sie gerichtet war? Obwohl die Akten- und Faktenlage heute kaum noch Raum für Spekulationen über Ursachen, Zielrichtung und Verlauf dieses Aufstandes lassen, gibt es nach wie vor selten einen Gegenstand in der Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkrieges, dessen Beurteilung immer noch so eng mit jeweiligen politischen Erfordernissen und/oder Opportunitätsaspekten der jeweiligen Zeitläufte verknüpft ist wie der Warschauer Aufstand. Das hört nicht auf.
In einem Material des Kasseler Friedensratschlages (basierend auf einem Vortrag von Professor Eckart Mehls, Berlin) finden sich dafür Belege:
Aus einem Artikel des bekannten polnischen Intellektuellen Stefan Kisielewski aus dem September 1945 (!) stammt die Einschätzung:
»Der Warschauer Aufstand war politisch ein Fehler, militärisch Unsinn und psychologisch eine Notwendigkeit.«

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»Es gibt keinen Zweifel, daß die Entscheidung über den Beginn des Warschauer Aufstandes in den Augen der Polen der tragischste Fehler in der neuesten polnischen Geschichte ist. Aus den edelsten Motiven wurde sie von Menschen getroffen, die seit Anfang des Krieges aufopferungsvoll gegen alle aufeinanderfolgenden Angreifer für die Unabhängigkeit des Vaterlandes gekämpft haben. Dessen ungeachtet hat sie sich als verhängnisvoll für die Sache, der sie dienen sollte, erwiesen … Aus auf der Hand liegenden Gründen hatte der Aufstand keine große Chance für eine erfolgreiche Beendigung. Die Wahl des Zeitpunktes sowie die taktischen Voraussetzungen erwiesen sich als beklagenswert unzutreffend. Die politischen Ziele waren im Grunde genommen unrealistisch … Die Überzeugung, daß die Westmächte sich in irgendeinem wichtigeren Konflikt mit dem sowjetischen Verbündeten für die Seite der Polen aussprechen würden, war, vorsichtig ausgedrückt, unbegründet. Insofern eröffneten schöne Ideale und weißglühende Emotionen den Weg in die Katastrophe.« (Norman Davies: Boze igrzysko, Kraków 1991; ursprüngliche englische Fassung 1981)

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»Der Warschauer Aufstand war ein grandioser bewaffneter Start, der alle Erwartungen übertraf, die Entscheidung über seinen Beginn – obwohl natürlich risikobehaftet – war weder leichtfertig und noch weniger verbrecherisch.« (Norman Davies: Powstanie ‘44, Warszawa 2004)

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Die beiden zuletzt zitierten Passagen, vom selben Autor in einem Abstand von 23 Jahren als Einschätzung gegeben, machen in besonderem Maße deutlich, wie schwierig die Materie selbst und wie groß die Versuchung ist, dem Ereignis vor jeweils verschiedenem Hintergrund andere Deutungen zuteil werden zu lassen.
Eine der bündigsten Einschätzungen des Aufstandes hatte der Schriftsteller Pawel Jasienica (1909–1970) bereits 1949 in der katholischen Zeitung Tygodnik Powszechny abgeliefert: »Militärisch richtete sich der Aufstand gegen die Deutschen, politisch gegen die Sowjets, demonstrativ gegen die Angloamerikaner und faktisch gegen Polen.« Aber zu der Zeit waren ja in Warschau bereits die kommunistischen Manipulierer am Werke. Darum zurück zur Berliner Zeitung. Einer der eindrucksvollsten Sätze im hier in Frage stehenden Artikel nämlich geht folgendermaßen:
»In der Volksrepublik manipulierten die Kommunisten das Gedenken an den Warschauer Aufstand, der immer auch ein politisches Symbol gegen die erneute sowjetische Besatzung Polens war. [Ist vielleicht »Besetzung« gemeint? W. S.] Dank einer gezielten Geschichtspolitik ist der Aufstand in den letzten Jahren zu einem nationalen Symbol für den Kampf Polens gegen zwei Diktaturen im 20. Jahrhundert geworden.«
Merke: Kommunisten manipulieren, Nichtkommunisten hingegen betreiben eine »gezielte Geschichtspolitik«. Es lebe der kleine Unterschied.