von Wolfgang Schwarz
Mit gewisser Regelmäßigkeit tauchen sie in den Medien auf, und mit Verläßlichkeit verschwinden sie kurz darauf wieder aus dem Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Sie sind ein Relikt des Kalten Krieges wie die Reste der Berliner Mauer – aber im Unterschied zu diesen ohne jeglichen touristischen Unterhaltungswert. Gerade erst haben alle im Bundestag vertretenen Parteien – mit Ausnahme der Union – unisono ihren vollständigen Abzug gefordert. Die Rede ist von den nuklearen Gefechtsfeldwaffen der amerikanischen Streitkräfte in der Bundesrepublik. Zehn bis zwanzig Flugzeugbomben vom Typ B 61 sollen noch auf der Airbase Büchel in Rheinland-Pfalz gelagert sein, vorgesehen ausschließlich zum Einsatz mit Tornados der Bundeswehr.
Nukleare Teilhabe heißt das im NATO-Jargon und meint ein vor Jahrzehnten geschaffenes Konstrukt, durch das NATO-Staaten, die keine eigenen Kernwaffen besitzen, im Fall eines Krieges mit der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) zu atomaren Hiwis der USA geworden wären: Sie hätten amerikanische Gefechtsköpfe mit nationalen Trägersystemen zum Ziel bringen sollen. Tornado-Piloten der Bundeswehr üben diesen E-Fall bis heute. Insgesamt rechnen Experten noch mit einem Bestand von bis zu 350 entsprechenden Nuklearsystemen der USA in fünf europäischen Ländern (neben der Bundesrepublik: Italien, Türkei, Niederlande, Belgien).
Der Anlaß für die aktuelle Berichterstattung und ihr Echo im Bundestag sollte zu denken geben: Es waren Ergebnisse einer internen Untersuchung der U.S. Air Force in die Öffentlichkeit gelangt, denen zufolge die meisten Stützpunkte, die derzeit zur Lagerung amerikanischer Kernwaffen in Europa genutzt werden, nicht den Sicherheitsanforderungen des amerikanischen Verteidigungsministeriums entsprächen. Moniert wurde zum Beispiel der Einsatz von ungenügend qualifiziertem Wachpersonal – nämlich von Wehrpflichtigen mit lediglich neunmonatiger aktiver Dienstzeit. Im Kontext der Air Force-Untersuchung die Bundesrepublik expressis verbis zu nennen, war da gar nicht mehr nötig, denn von den verbliebenen fünf Stationierungsländern hat nur die Bundeswehr einen neunmonatigen Grundwehrdienst, und sie setzt Wehrpflichtige zum Wachdienst um Büchel ein!
Zu denken geben sollte im übrigen auch die Vorgeschichte der Untersuchung: Im Jahre 2007 verlor die U.S. Air Force über einen Zeitraum von 36 Stunden die Aufenthaltsübersicht über sechs Nuklearsprengköpfe, als diese ohne Kenntnis des zuständigen Sicherheitspersonals quer durch die Vereinigten Staaten geflogen wurden. Szenarien, in denen sich Terroristen Kernwaffen oder zumindest spaltbares Material beschaffen, sind in der Regel in der Dritten Welt oder in Rußland angesiedelt. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten aktuellen Sachverhalte scheint die Palette möglicher Schauplätze zumindest überdenkenswert.
Im Kalten Krieg lautete die Standardbegründung für die Existenz nuklearer Gefechtsfeldwaffen der USA und ihre massenhafte Stationierung vor allem in und um Zentraleuropa, sie seien im Rahmen der Abschrekkungsstrategie der NATO das Gegengewicht zur gewaltigen konventionellen Übermacht der WVO-Staaten, insbesondere der Sowjetunion bei Kampfpanzern.
Die Amerikaner haben diese Argumentation übrigens ernstgenommen. Seit die WVO zerfallen ist und die sowjetischen Panzermassen erst ins Heimatland, später hinter die russischen Grenzen zurückverlegt und nicht zuletzt durch den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa reduziert und weiter domestiziert wurden, sind die nuklearen Gefechtsfeldwaffen der USA in Europa, die 1971 mit 7300 ihren Höchststand hatten, von immerhin noch 4000 im Jahre 1990, am Ende des Kalten Krieges, auf nur noch 700 zwei Jahre später verringert worden.
Im Zuge nachfolgender Abbauschritte wurden auch aus Deutschland weitere Gefechtsköpfe endgültig abgezogen – 2003 aus Memmingen, 2005 aus Ramstein. In diesem Jahr haben die Vereinigten Staaten nach über fünfzig Jahren ihre Kernwaffenstationierung in Großbritannien beendet. Experten vermuten, daß all diese Schritte auf alleinigen Entschlüssen der USA beruhten. Über Mitentscheidungen in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO, in der die Amerikaner regelmäßig mit ihren atomaren Hiwis zusammen sitzen, ist jedenfalls offiziell nichts bekannt.
Und wann verschwinden die übrigen B 61-Bomben aus Europa, eben jene bis zu 350, die noch da sind? Das ist kein zu vernachlässigender Rest, denn von seinem Vernichtungspotential her entspricht dieser Bestand immer noch dem nuklearen Gesamtpotential Frankreichs, ist größer als das Potential Chinas und umfangreicher als das Potential Israels, Indiens und Pakistans zusammengenommen. Der Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Thomas Kossendey (CDU), machte in einer Aktuellen Stunde im Bundestag am 25. Juni die Linie der Bundesregierung in dieser Frage deutlich: Wer den Abzug der Atomwaffen und das Ende der nuklearen Teilhabe fordere, stelle einen Kernbestandteil der NATO und die Beziehungen zu den USA infrage. Bereits zuvor hatte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm erklärt, daß Atomwaffen »für die überschaubare Zukunft« zu einer glaubhaften Abschreckungsfähigkeit der NATO gehörten.
Im besten Falle widerspiegeln derartige Argumentationen den blind-vorauseilenden Gehorsam eines unverbesserlichen Musterschülers, im schlimmeren ein übles Verhaftetbleiben in einer Mentalität der Blockkonfrontation, die in der Rhetorik des Alltags zwar üblicherweise kaschiert wird, die aber immer dann durchbricht, wenn’s ans Eingemachte geht.
Wie Entwicklung zustandekommt, lehrt demgegenüber ein Beispiel aus dem Jahre 2001. Damals verzichtete Griechenland ausdrücklich auf eine fortgesetzte nukleare Teilhabe. Daraufhin zogen die USA ihre restlichen Kernwaffen von dort ab – ohne politischen Konflikt, ohne daß dies die Stellung des Landes in der NATO auch nur in der Nuklearen Planungsgruppe tangiert hätte.
Und wer – bitte schön – soll durch zehn bis zwanzig B 61 in Büchel »glaubhaft« abgeschreckt werden? Iran? Pakistan? Oder immer noch die Russen? Die Frage stellen, heißt, sie beantworten. Als Fazit bleibt: Die Zeit ist überreif, den atomaren Hiwi-Status endlich aufzugeben!
P. S.: Der Autor erinnert sich, daß er dem damaligen Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, im Frühjahr 1990 in den Entwurf einer Grundsatzerklärung den Satz schrieb: »Das künftige vereinigte Deutschland soll kernwaffenfrei sein.« Der Satz wurde gestrichen, weil, so hieß es, die DDR nicht über Kernwaffen verfüge und sich nicht auch noch um Angelegenheiten der Großmächte kümmern könne.
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