Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 21. Juli 2008, Heft 15

Der Wolf im Menschen

von Paul Gensler

Beim Wühlen auf den Antiquariatstischen eines großen Flohmarkts fiel mir ein längst vergessenes Buch aus dem Jahre 1982 in die Hände, verlegt bei Edition Nautilus Hamburg, einer jener wenigen linker Verlage, denen bis heute ganz erfolgreich das Überleben gelungen ist. Ich glaube, es ist an der Zeit, dieses Buch wieder zu heben.
Jacques Mesrine veröffentlichte seine Autobiographie L´instinct de mort im Februar 1977 während seines Aufenthaltes im Männertrakt des französischen Gefängnisses Fleury-Merogis im Verlag Lattés. Sofort wurde ein Gesetz verabschiedet, das besagte, daß kein Verbrecher aus der Veröffentlichung seiner Untaten Profit herausschlagen dürfe.
Doch warum? Warum fürchtet sich ein Staat so sehr vor den Memoiren eines gewöhnlichen Kriminellen? Vermutlich, weil es sich bei Jacques Mesrine nicht um einen gewöhnlichen Kriminellen handelt, sondern vielmehr um einen, der bis zu seinem gewaltsamen Tod 1979 als Staatsfeind Nummer eins Kanadas und Frankreichs galt.
Ausführlich beschreibt er seine Jugend, die er mehr mit jugendlichen Banden in den Straßen von Paris als im elterlichen Heim verbrachte, seinen Einsatz als Kommandosoldat im Algerienkrieg und schließlich sein soziales Abgleiten aus der gutbürgerlichen Gesellschaft in das »Milieu«.
Milieu – so nennt Mesrine seine Welt aus Dieben und Hehlern, Huren und Zuhältern, Schlägern und Mördern. Hier lebte Mesrine, und hier fühlte er sich heimisch. Ausführlich beschreibt er seine steile kriminelle Karriere, schonungslos seine Prügeleien und Morde, stolz seine Einbrüche und Überfälle – und ohne jede Reue seine Prozesse und Gefängnisaufenthalte.
L´instinct de mortTodestrieb, so der deutsche Name des Buches. Schon Sigmund Freud schrieb über diesen einen der beiden Urtriebe des Menschen. Der Todestrieb – Thanatos, benannt nach dem griechischen Gott des Todes – sei der Gegenpol zum Eros, also Schöpfungstrieb im Menschen. Er sei der Trieb der Vernichtung, Zerstörung, Regression und Aggression. Besser als mit diesem psychoanalytischen Begriff lassen sich das Leben und vor allem der Charakter Mesrines gar nicht beschreiben. Er lebt, stielt, prügelt und mordet für die Gefahr an sich, für den Nervenkitzel. Doch Jacques Mesrine als verrückten Soziopathen abzustempeln, ist in Anbetracht seiner gesellschaftskritischen Arbeit absolut unangebracht. Neben seinen gewalt- und verbrecherverherrlichenden Ausführungen, die den Werken Puzos in nichts nachstehen, ist deshalb besonders das vorletzte Kapitel von Interesse.
Dieses Kapitel wirkt wie der conclusio einer Ciceroschen Rede deren argumentatio durch Mesrines Leben dargestellt wird. Als hätte er das Buch nur geschrieben, um damit seine kurze, aber ungleich heftigere Sozialkritik zu verdeutlichen und zu belegen. Jacques Mesrine als großen Gesellschaftskritiker hinzustellen, wäre wiederum jedoch zu hoch gegriffen, da er sich nur mit einigen Strukturen der damaligen Gesellschaft auseinandersetzte. Dies sind die Institutionen, mit denen Jacques Mesrine sein Leben lang im Konflikt gestanden hat; seine einzigen, wenn auch meist eher ungewollten Verbindungen zum Bürgertum: die Armee, Gerichte und Richter, Polizei und Polizisten und vor allem die Gefängnisse, in denen zur damaligen Zeit gerade reihenweise Hochsicherheitstrakte geschaffen wurden.
Leider ist es nicht möglich seine Ausführungen hier in ihrer ganzen Breite darzulegen, seine wichtigsten Reflexionen hingegen schon.  »Der kollektive Mord wird verherrlicht, wenn er unter dem Klang der Nationalhymne begangen wird.« Mesrine, der vielfache Mörder, wird hier durchaus zum Kämpfer gegen die Doppelmoral der Gesellschaft, die zum einen jeden Bankräuber, der im Zuge seiner »Arbeit« jemanden tötet, auf ewig wegschließt und vergißt, einen Soldaten hingegen, der de facto ein »Berufsmörder« ist, mit Orden und Medaillen ehrt und feiert. »Das Gefängnis ist die Schule des Verbrechens – zur Zeit werden dort die Mesrine von morgen fabriziert.« Mesrine weiß, daß es nur allzu leicht für einen jungen Menschen ist, einmal in seinem Leben einen Fehler zu begehen. Und er weiß, daß dieser eine Fehler schon reicht, um aus einem jungen, unbedachten Kleinkriminellen einen berufstätigen, gnadenlosen Berufsverbrecher zu machen. Jedoch ist es nicht der Mensch selbst, der sich diesen Weg aussucht. Einmal stigmatisiert, wird er von der Gesellschaft verstoßen, bekommt keinen Job, keine Wohnung, wird ausgegrenzt. Im Gefängnis kommt der kleine Handtaschendieb mit Zuhältern, Vergewaltigern und Mördern in Kontakt und bevor er sich umsieht gehört er zu eben jenem Milieu, das Mesrine so schonungslos beschreibt.
»Eine ausgestreckte Hand ist wirkungsvoller als eine Kette…« Mesrine erkannte schon vor mehr als dreißig Jahren etwas, was ein Roland Koch noch heute nicht versteht. Er verdeutlichte die Notwendigkeit von Prävention und der sozialen Reintegration von jungen Straffälligen, statt sie in Gefängnissen, Bootcamps oder ähnlichen gulagähnlichen Einrichtungen wegzuschließen.
»Denn der Mensch ist des anderen Menschen Wolf; auch wenn er sich manchmal zu einer Meute zusammenrottet, um Recht zu sprechen, so bleibt er trotzdem ein Wolf, so wie derjenige, den er verurteilt.« – Wer mehr auch über sich selbst, seine persönliche Einstellung zum Justizvollzug und zu Verbrechern nachdenken und herausfinden möchte, dem sei wärmsten zur Lektüre dieses Buches geraten.