Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 9. Juni 2008, Heft 12

Reise in den »Schwarzen Garten«

von Malgorzata Szejnert, Warschau

Es war in den Jahren des Ausnahmezustands, ich hatte die Redaktion der Wochenzeitung Literatura verlassen müssen. Da bot der Neurologe Professor Ignacy Wald mir, der auf die Straße gesetzten Reporterin, eine halbe Planstelle im Warschauer Institut für Psychiatrie und Neurologie an. (Der international renommierte Arzt und Wissenschaftler hatte von 1943 an in der Polnischen Volksarmee als Panzerfahrer gekämpft, an der Befreiung Warschaus teilgenommen und nach dem Krieg Medizin studiert. G. K.) Im Institut redigierte ich die Krankenberichte.
Eines Tages schickte Ignacy Wald mich nach Katowice – in der Staszic-Siedlung, die von allen Einwohnern Giszowiec genannt wurde. Zuvor war es eine Bergarbeitersiedlung gewesen. Als Gartenstadt konzipiert und zu Anfang des 20. Jahrhunderts im Obersten Oberschlesien, im ehemaligen Drei-Kaiser-Eck, dort wo Rußland, Österreich-Ungarn und Deutschland aneinandergrenzten, als Bergarbeitersiedlung des Montanunternehmens Gieschewald erbaut, nannte man sie ab 1919 Giszowiec, ab 1939 wiederum Gieschewald und ab 1945 schließlich erneut Giszowiec; teilweise wurde sie in die erwähnte Siedlung Staczice umbenannt, bis dieses Fleckchen Erde schließlich in Katowice aufging.
Die Bergarbeiterfamilien hatten in Einfamilienhäusern gewohnt, zwar ohne Bad, aber zur Gartenstadt hatte ein öffentliches Stadtbad gehört. In der Schule wurde zuerst in deutscher Sprache unterrichtet, dann in polnisch, dann wieder deutsch und – bis heute – erneut in polnisch. In der Schulchronik, geschrieben in den markanten Schwabacher Schriftzügen, habe ich oft gelesen; der erste polnische Schuldirektor, der nach der Abstimmung in Oberschlesien (1921 – G. K.) ins Amt gekommen war, hatte die deutschsprachigen Aufzeichnungen nicht herausgerissen, sondern die Schulchronik in polnischer Sprache weitergeführt.
1968 hatte der damalige Wojewodschaftssekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei entschieden, daß diese Gartenstadt abzureißen sei, um auf der abgeräumten Fläche Wohnblöcke zu errichten. Die Entscheidung war ideologisch begründet. Ureigentlich ging es darum, ein derart schönes Zeugnis nicht nur deutscher, sondern auch noch kapitalistischer Alltagskultur aus der Welt zu schaffen. Ich kam seinerzeit nach Giszowiec, als die Planierraupen schon einen Teil der Gartenstadt plattgemacht hatten. Erste Wohnblöcke standen. Bald nachdem sie erbaut, begannen sie Ruinen zu ähneln.
Dort lernte ich Leute kennen, die man heute Vertreter der Zivilgesellschaft nennen würde. Sie waren sich zwar bewußt, daß die überlieferten materiellen Zeugnisse nicht zu erhalten seien, bemühten sich jedoch, die historisch gewachsenen sozialen Bindungen zu bewahren, mehr noch, neue soziale Bindungen zu knüpfen. Eine dieser neuen Bindungen war mit der Entstehung eines Zentrums für geistig behinderte Kinder verbunden. Das hat mich tief beeindruckt.
Eben an diesem historisch gewachsenen Ort war eine Rehabilitationseinrichtung für Kinder mit schweren neurologischen Schädigungen entstanden. Ich hatte einen Bericht über die Arbeit dieser klinischen Einrichtung für eine Konferenz im Warschauer Institut zu schreiben, und Ignacy Wald rechnete damit, daß ich auch die sozialen Bedingungen berücksichtige, unter denen diese Rehabilitationsklinik entstanden war. Giszowiec übte einen unvergleichlichen Eindruck auf mich aus. Die Klinik war hervorragend ausgestattet und organisiert, im Haus herrschte eine Atmosphäre der Hochherzigkeit.
Die ursprüngliche Gartenstadt, bereits zersiedelt und zersetzt von Wohnblöcken, verteidigte sich noch mit erhaltenen Bindungen, dem einen oder anderen Laubengang, einem Flur, einem zerstörten Dach, mit Zeugen vergehender Schönheit. Menschen, die dieses Fleckchen Erde als ihre geistige und materielle Heimat betrachteten, taten alles um zu erhalten, was zu erhalten war.
Nachdem es Ende der achtziger Jahre zu den tiefgreifenden Veränderungen gekommen war, wandte ich mich, nunmehr bereits in Rente, wiederum diesem historischen Ort zu, einem Landstrich, in dem Ethnien unterschiedlicher Prägungen, Polen, Deutsche und ein Volksstamm, der sich »Slazaci« auf engem Raum in einem Landstrich und eben auch in Gieschewald/Gieszowice zusammenlebten. Ich stieß auf die dicke Geschichte der Bergwerkgesellschaft Georg von Giesches Erben, in der die zweihundert Jahre lange Geschichte dieses Unternehmen beschrieben wird. Über das Buch Das Haus am Ring von Clara Schulte fand ich die Wohnstätte eines Teils der Familie Giesche am Breslauer Markt. Frau Schulte war die Gattin des Generaldirektors des Unternehmens Giesches Erben, der, wie Walter Laqueur und Richard Breitmann herausfanden, die Alliierten über die deutsche Vernichtungspolitik unterrichtete.
Viel Zeit verbrachte ich im Bergbaumuseum in Zabrze, in dem vielfältige Zeugnisse des Alltagslebens der Bergarbeiterfamilien bewahrt werden. In den Heimatstuben von Giszowiec sah ich, wie die Küchen aussahen, welche Stickereien den Bergarbeiterfrauen von der Hand gegangen waren. Ich zeichnete Gespräche auf, verschriftlichte sie später, arbeitete im Staatlichen Archiv Katowice und einer Reihe weiterer Archive. So entstand Schritt für Schritt und im Laufe der Zeit mein Buch Der Schwarze Garten.
In diesem Landstrich veröffentlichten die Reichsbehörden im März (1941 – G.K.) die Volksliste. Die Bergarbeiter, die 1939 acht Stunden untertage arbeiteten, hatten 1940 acht und eine dreiviertel Stunden zu arbeiten, ab 1941 elf Stunden. Sie waren schlecht versorgt. Die Bewohner Oberschlesiens wurden in vier Nationalitätengruppen aufgeteilt. In die Volksliste 1 kamen Deutsche, die sich bereits vor dem Krieg aktiv am Leben der deutschen Minderheit beteiligt hatten, und zwar in politischer Hinsicht. Zu dieser Gruppe gehörte beispielsweise der Schulinspektor Andreas Dudek. Zur Volksliste 2 gehörten Einwohner, die sich bereits vor dem Krieg als Deutsche gaben, aber sich politisch gleichgültig gezeigt hatten. In diese Liste eingetragen wurde Tomasz Wróbel, der Mann der Waleska – einer meiner Interviewpartnerinnen –, der im Ersten Weltkrieg Putzfleck bei einem Offizier gewesen war und als Weltkriegsveteran sich irgendwann einmal dem Kriegerverein angeschlossen hatte. Die in diese beiden Volkslisten 1 und 2 Eingetragenen wurden als Angehörigen deutscher Nationalität betrachtet, das gab ihnen das Recht, sich als Staatsbürger des Dritten Reiches zu bewerben.
Zur Volksliste 3 gehörte die Schicht des bodenständigen Mittelfelds, die (aus der Sicht der deutschen Machthaber) polonisiert waren – wie die Familien Gawlik, Kasperczyk, Kilczan –, auf die aber die Wehrmacht und die Wirtschaft des Dritten Reiches nicht verzichten konnten. Bei ihnen wurde von ihrer schrittweisen »Eindeutschung« ausgegangen. Menschen, die in diese Gruppen einsortiert worden waren, dachten bei sich zumeist: »Wenn sie wollen, dann schreibe ich, was gewünscht wird. Soll sie doch der Teufel holen, ich bin ja sowieso polnisch.« Zur Volksliste 4 gehörten bodenstämmige Slazacy, die (wie die Waleska) voll und ganz polonisiert waren.
Und schließlich gab es auch Landeskinder, etwa zwei Prozent der Oberschlesier, die wie meine Interviewpartner Konstanty Prus und Anna Kilczanowa zu keiner der vier Gruppen gehörten. Sie hatten sich bereits vor dem Krieg und nun erst recht zu Polen bekannt und hatten deshalb nichts Gutes zu erwarten.
PS: Kaziemierz Kutz, der große Regisseur – unter anderem spielt sein Film Perlen in der Krone im oberschlesischen Bergarbeitermilieu – urteilte über die Reise in den Czarny Ogrod (das ist der Schwarzen Garten):  »Für alle die von dorther stammen, ist der Schwarze Garten wie ein Vergrößerungsglas, weil es Orte wie Giszowiec multum in Oberschlesien gibt.«

Aus: »Czarny Ogród« (Kraków 2007) und »Nowe Ksiazki« Heft 4/2008, ausgewählt und übersetzt von Gerd Kaiser