Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 28. April 2008, Heft 9

Tibet und Palästina

von Uri Avnery, Tel Aviv

He du! Nimm die Hände weg von Tibet!« schreit der internationale Chor. »Aber nicht von Tschetschenien! Nicht vom Baskenland! Nicht von Kurdistan! Und sicher nicht von Palästina!« Und das ist kein Witz.

Ich unterstütze die Rechte des tibetischen Volkes auf Unabhängigkeit oder wenigstens eine Autonomie, ich verurteile die Aktionen der chinesischen Regierung dort, aber ich bin nicht bereit, mich an den Demonstrationen zu beteiligen. Warum? Weil ich ein ungutes Gefühl habe, daß ich mich damit einer Gehirnwäsche unterziehe – das, was da vor sich geht, eine Übung in Heuchelei ist. Ich denke dabei nicht an die Manipulation. Schließlich ist es kein Zufall, daß die Unruhen in Tibet am Vorabend der Olympischen Spiele stattfinden. Ein für seine Freiheit kämpfendes Volk hat das Recht, jede Gelegenheit zu nutzen, die sich ergibt, um seinen Kampf zu fördern.

Ich unterstütze die Tibeter, obwohl mir bewußt ist, daß die Amerikaner diesen Kampf für ihre eigenen Zwecke ausnutzen. Die amerikanischen Medien führen die weltweite Kampagne, die ein Teil des verborgenen Kampfes zwischen den USA – der herrschenden – und China – der aufstrebenden Supermacht – ist. Eine neue Version des »Großen Spiels«, das im 19. Jahrhundert in Zentralasien zwischen Großbritannien und Rußland gespielt wurde. Tibet ist nur eine Karte, die ausgespielt wird.

Ich bin sogar bereit, die Tatsache zu ignorieren, daß die sanften Tibeter ein mörderisches Pogrom gegen unschuldige Chinesen ausführten, Frauen und Männer töteten, Häuser und Läden anzündeten. Nein, was mich wirklich stört, ist die Heuchelei der Weltmedien. In Tausenden von Kommentaren und Talkshows häufen sie Verfluchungen und Beschimpfungen über das bösartige China. Es sieht so aus, als seien die Tibeter das einzige Volk auf Erden, dem das Recht auf Unabhängigkeit mit brutaler Gewalt verweigert wird – wenn nur Peking seine schmutzigen Hände von den safrangelben Gewändern der Mönche wegnähme, wäre in dieser Welt alles in Ordnung.

Zweifellos hat das tibetische Volk das Recht, sein eigenes Land zu regieren, seine eigene Kultur zu pflegen und seine religiösen Institutionen zu fördern. Aber haben die Kurden in der Türkei, im Irak und in Syrien nicht dasselbe Recht? Die Bewohner der West-Sahara, deren Gebiet von Marokko besetzt ist? Die Basken in Spanien? Die Korsen vor der Küste Frankreichs? Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Warum bringen die Medien nur den einen Unabhängigkeitskampf, aber ignorieren oft zynisch einen anderen? Was macht das Blut eines Tibeters röter als das Blut von tausend Afrikanern im Ost-Kongo? Haben die Tibeter eine besonders exotische Kultur? Wird ihr Kampf von einer besonders charismatischen Person angeführt, die von den Medien geliebt wird? Wird die unterdrückende Regierung von den Medien gehaßt? Oder gehört die unterdrückende Regierung zum pro-amerikanischen Lager? Hat das unterdrückte Volk begabte Sprecher, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und Medien manipulieren können?

Gemessen an diesen Kriterien ist kein Volk wie das der Tibeter. Die erfreuen sich in der Tat idealer Bedingungen. Am Himalaja leben sie in einer der schönsten Landschaften der Erde. Ihre einzigartige Religion weckt Neugierde und Sympathie. Ihre Gewaltfreiheit ist attraktiv und elastisch genug, um sogar schlimmste Greueltaten zu überdecken, wie das Pogrom, das gerade stattfand. Der im Exil lebende Dalai Lama ist eine romantische Persönlichkeit, ein Medienstar. Das chinesische Regime dagegen wird von vielen gehaßt – von den Kapitalisten, weil es eine kommunistische Diktatur ist, von Kommunisten, weil es kapitalistisch geworden ist. Dieses Regime fördert einen häßlichen Materialismus, das ganze Gegenteil dessen, was die buddhistischen Mönche leben, die ihre Zeit mit Gebet und Meditation verbringen.

Wenn China eine über tausend Kilometer lange Eisenbahn nach Lhasa baut, dann bewundert der Westen nicht die Leistung der Ingenieure, sondern sieht nur das eiserne Monster, das Han-Chinesische Siedler ins besetzte Land bringt.

Und natürlich ist China eine aufstrebende Macht, deren wirtschaftlicher Erfolg Amerikas Hegemonie in der Welt gefährdet. Ein großer Teil der kränkelnden US-Ökonomie gehört schon direkt und indirekt den Chinesen. Das amerikanische Empire versinkt in hoffnungslosen Schulden – und China wird bald der größte Geldverleiher sein.

Die US-Industrie zieht ins Reich der Mitte und nimmt Millionen von Arbeitsplätzen mit. Was haben – verglichen damit – die Basken zu bieten? Auch sie sind ein altes Volk mit einer eigenen Sprache und Kultur. Aber sie sind nicht besonders exotisch, es gibt keine Gebetsmühlen, keine Mönche in Roben.

Die Basken haben auch keinen romantischen Führer wie den Dalai Lama. Der spanische Staat, der sich auf den Trümmern von Francos verachteter Diktatur erhob, erfreut sich in aller Welt großer Beliebtheit. Spanien gehört zur Europäischen Union, die grundsätzlich mit den USA verbunden ist.

Der bewaffnete Kampf der Basken im Untergrund wird von vielen verabscheut und als »Terrorismus« betrachtet, besonders nachdem Spanien den Basken eine weitreichende Autonomie zugesprochen hat. Unter diesen Umständen haben die Basken überhaupt keine Chance, für ihre Unabhängigkeit die Unterstützung der Welt zu erhalten.

Dies bringt uns dann auch zum palästinensischen Problem. In der Konkurrenz um Sympathie mit den Weltmedien haben die Palästinenser einen unglücklichen Stand. Nach allen objektiven Standards haben sie ein Recht auf volle Unabhängigkeit, genau wie die Tibeter. Sie bewohnen ein bestimmtes Land, sie sind eine besondere Nation, eine klare Grenze besteht zwischen ihnen und Israel. Man müßte wirklich ziemlich hirnverbrannt sein, diese Fakten zu leugnen.

Doch die Palästinenser leiden unter mehreren Schicksalsschlägen: Das Volk, das sie unterdrückt, behauptet von sich selbst, das Opfer par excellence zu sein. Die ganze Welt sympathisiert mit den Israelis, weil die Juden die Opfer des schrecklichsten Verbrechens der westlichen Welt waren. Dies schafft eine schwierige Situation: Der Unterdrücker ist beliebter als das Opfer. Jeder, der mit den Palästinensern sympathisiert, wird automatisch des Antisemitismus verdächtigt.

Dazu kommt, daß die Mehrheit der Palästinenser Muslime sind, da aber der Islam im Westen Furcht und Abscheu hervorruft, wurde der palästinensische Kampf automatisch Teil der formlosen Bedrohung, des sogenannten internationalen Terrorismus.

Und seit dem Tod von Yassir Arafat und Sheich Ahmed Yassin haben die Palästinenser keinen besonders beeindruckenden Führer mehr – weder bei der Fatah noch bei der Hamas.

Die Weltmedien weinen wohl Tränen um das tibetische Volk, dessen Land von den chinesischen Siedlern weggenommen wurde. Aber wer kümmert sich schon um die Palästinenser, deren Land von unseren Siedlern weggenommen wird? Im weltweiten Tumult um Tibet vergleichen sich die israelischen Sprecher – so seltsam das klingt – mit den armen Tibetern, nicht mit den bösen Chinesen. Viele denken, dies sei logisch.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von der Redaktion gekürzt